Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Wilhelm Ostwald, Jena, 2. September 1915

Jena 2. Septbr. 1915.

Lieber und verehrter Freund!

Eingedenk Ihres 62sten Geburtstages kann ich heute den Deutschen „Sedantag“ nicht vorübergehen lassen, ohne Ihnen einen herzlichen Glückwunsch zu senden; zugleich mit dem Ausdruck der Hoffnung, daß Ihre Gesundheit wieder ganz hergestellt ist und Sie Ihre bewunderungswürdige „Energie“ unvermindert dem Dienst unserer guten Sache, des Monismus widmen. Die mancherlei Angriffe, welche in neuerer Zeit gegen dieselbe, sowohl gegen Ihre verdienstvolle Leitung des „Monistischen Jahrhunderts“, wie gegen Ihre persönliche Stellung im „Weltkriege“ gerichtet worden sind, verdienen nicht, daß man sich über sie ärgert. Es ist ja natürlich, daß in so verwickelten politischen und sozialen Fragen, wo kein Mensch im Stande ist, alle Einzelheiten gründlich zu kennen und alle Verhältnisse klar zu übersehen, die Anschauungen selbst gleichgesinnter Genossen vielfach auseinandergehen. || Ich selbst leide unter den zahlreichen Trauerfällen des blutigen Völkerkrieges sehr; viele Schüler und Freunde sind gefallen oder haben Ihre Söhne verloren. Erst kürzlich haben wieder 2 Neffen von mir ihren einzigen hoffnungsvollen Sohn zum Opfer bringen müssen. Dabei ist ein Ende dieses beispiellosen Ringens noch gar nicht abzusehen, und wie soll man sich die Neugestaltung aller Verhältnisse denken?

– Seit dem Verluste meiner lieben Frau (im April) lebe ich ganz zurückgezogen und suche meinen Trost (wie schon so oft in meinem langen Leben) bei unserer gütigen Mutter Natur, deren unerschöpflicher Reichtum an schönen und interessanten Erscheinungen ich gerade jetzt tief und dankbar empfinde. Ich habe mich wieder zu meiner alten Jugendliebe, der Botanik geflüchtet; außerdem würdige ich erst jetzt voll die landschaftlichen Reize von Jena’s Umgebung, welche im Aquarell festzuhalten ich früher niemals Zeit und Ruhe finden konnte. ||

Die literarische Produktion habe ich leider seit einem Jahre ganz aufgeben müssen. Die unerfreulichen Erscheinungen des Marasmus senilis (Circulations-Störungen, Schlaflosigkeit u.s.w.) – verstärkt durch den erzwungenen Mangel freier Ortsbewegung und die Unfähigkeit zu Reisen – nehmen beständig zu. Mehrmals habe ich Versuche gemacht, Ihnen einen Artikel für das Monistische Jahrhundert zu schreiben – aber ohne Erfolg! In diesem ganzen Jahre habe ich noch keine Zeile drucken lassen – zum ersten Male seit 60 Jahren! Selbst zu zusammenhängender Lektüre komme ich nicht mehr. Von der zugesandten Masse der täglich wachsenden Kriegs-Literatur kann ich nur einen kleinen Teil ansehen; aus den biologischen Fachwissenschaften bin ich ganz herausgekommen! –

Mit herzlichsten Grüßen, auch an Ihre Kinder, bleibe ich stets

Ihr treu ergebener

Ernst Haeckel.

P.S. Eben im Begriffe diesen Brief zu schließen, erhalte ich vom Gesamtvorstand des Deutschen Monistenbundes (Pfüsslinger, München) den Aufruf zur „Extraspende“ – mit dem Poststempel vom 31. August. Die Mitteilung über das betrübliche Defizit unserer Bundeskasse hat mich sehr erschreckt, besonders aber die Befürchtung, daß Sie bei ungenügender Deckung desselben, Ihre Stellung als Praesident des Bundes und Herausgeber unserer Bundesschrift aufzugeben, sich gezwungen sehen würden. Sie wissen, wie äußerst wertvoll ich Ihre aufopfernde Tätigkeit dafür stets eingeschätzt habe, und würde es für ein großes Unglück ansehen, wenn Sie dieselbe gerade jetzt aufgeben wollen. Ich hoffe sehr, daß es gelingen wird, Sie dafür zu erhalten und werde versuchen, die nötigen Mittel dafür zusammenzubringen, obwohl gerade die ungeheuren Anforderungen der Kriegsanleihen und die vielseitigen Bedürfnisse der Unterstützungs-Kassen größere Geldopfer sehr erschweren! Ich gebe die Hoffnung nicht auf, Sie uns zu erhalten!

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
02.09.1915
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, NL Ostwald
Signatur
1041, 50/43
ID
41443