Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Wilhelm Ostwald, Jena, 25. Februar 1915

Jena 25.2.1915.

Lieber und verehrter Freund!

Für Ihre freundlichen, telegraphischen und brieflichen Glückwünsche zu meinem 81.sten Geburtstage sage ich Ihnen meinen herzlichsten Dank! Der ominöse 16. Februar ist diesmal (wie ich erwartet hatte) sehr still verlaufen; während vorm Jahre zum 80.sten über 1600 Postsendungen eintrafen — deren dankende Beantwortung 4 Monate „Energie-Vergeudung“ erforderte, sind diesmal wenig über 200 gekommen. Außerdem bin ich schon seit Beginn dieses Jahres gezwungen, mich möglichst ruhig und frei von Besuchen zu erhalten; das alte Herzleiden meiner Frau (die nun auch schon im 73. Jahre steht) hat sich neuerdings sehr verschlimmert; auch meine eigene Gesundheit nimmt seit Monaten ab. Die beständigen Sorgen und Aufregungen des Weltkrieges, die tiefe Trauer um so viele Zerstörung hoher Cultur-Werte, wie um die Vernichtung so zahlreicher junger Menschenleben, stören mein psychisches Gleichgewicht wie meinen Schlaf; zu ruhiger zielbewusster Arbeit komme ich gar nicht mehr. ||

Mit herzlichstem Bedauern habe ich aus Ihrem gestrigen Briefe ersehen, daß auch Ihre kräftige Gesundheit neuerdings zu wünschen übrig läßt und Ihre rastlose und fruchtbare Arbeitstätigkeit einzuschränken droht. Mit wahrem Schrecken aber las ich die daran geknüpfte Mitteilung, daß Sie daran denken, das Präsidium des Monistenbundes (nach erfolgtem Friedensschlusse) niederzulegen. Ich würde diese Resignation als ein großes Unglück für unseren Bund betrachten, der ohnehin mit so vielen Hindernissen um seine Existenz zu kämpfen hat. Sie haben sich in den 4 Jahren Ihrer unermüdlichen und umsichtigen Tätigkeit als Vorstand unseres Bundes, als Gründer und Leiter des „Monistischen Jahrhunderts, als Herausgeber der wertvollen „Monistischen Sonntagspredigten“ u.s.w. so große Verdienste um die Förderung und Ausbreitung des wissenschaftlichen Monismus erworben, daß Sie in dessen Geschichte einen bleibenden Ehrenplatz behalten werden. || Wenn Sie wirklich zurücktreten wollten, würde es sehr schwer sein, einen einigermaßen genügenden Ersatz für Sie zu finden. Sie wissen ja, wie wenig Interesse und Verständnis die meisten Naturforscher, selbst die hervorragenden Köpfe, für die großen allgemeinen Fragen der Naturphilosophie besitzen; die Meisten sind Spezialisten, die in kleinem Detail-Cram aufgehen. Daß gerade jetzt das Hineinwachsen der großen politischen Fragen in unsere Weltanschauungs-Probleme Schwierigkeiten macht, – daß wir den Einen zu „national“, den Anderen zu „international“ erscheinen, – darf uns nicht beirren. Auch in dieser Hinsicht stimme ich größtenteils mit Ihnen überein; teile auch Ihre Bedenken über den Ausgang des ungeheuren Völkerkrieges. Die maritime Weltherrschaft Englands ist seit Jahrhunderten so tief gewurzelt, daß es uns trotz aller Verdienste unserer Organisation schwerlich gelingen wird, sie mit einem Schlage zu beseitigen, zumal die „Neutralen“ nicht einsehen wollen, daß wir eigentlich für sie kämpfen. || Es ist erstaunlich, wieviel Unsinn und Dummheit, beruhend auf Unkenntnis der historischen Tatsachen und Unfähigkeit zu ihrer Beurteilung, in dem ungeheuren Chaos dieses beispiellosen Weltkrieges zu Tage gefördert wird. Das ersehe ich nicht nur aus der täglich wachsenden Flut der Tages-Literatur, sondern auch aus sehr zahlreichen Briefen, welche mir aus dem neutralen Auslande (besonders Amerika) zugehen. Daher hoffe ich um so mehr, daß Ihr klares, auf reicher Erfahrung beruhendes Urteil uns im „Monistischen Jahrhundert“ und den M. „Sonntags-Predigten“ uns noch lange erhalten bleibt und Sie Ihr wertvolles Bundes-Präsidium mit steigendem Erfolge fortführen. Mit besten Wünschen für baldige und vollständige Herstellung Ihrer Gesundheit, und mit

freundlichen Grüßen — auch an Ihre Kinder — bleibe ich in aufrichtiger Verehrung

treulichst Ihr alter

Ernst Haeckel

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
25.02.1915
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, NL Ostwald
Signatur
1041, 50/41
ID
41441