Ernst Haeckel an Ruth Diederichs, Jena, 24./25. Dezember 1918
Jena (Villa Medusa), 24. Dezember 1918.
Am Schlusse des unheilvollen vierten Jahres des zerstörenden Weltkrieges stehen wir fast hoffnungslos auf dem Trümmerfelde einer verwüsteten Kultur. Der falsche Idealismus des deutschen Volkes, die zersplitternde Uneinigkeit der deutschen Stämme, der Mangel an einer naturgemäßen einheitlichen Weltanschauung bedrohen unser teures Vaterland mit völligem Untergange. Da müssen wir die Hoff nung auf eine bessere Zukunft in einer geläuterten realistischen Schulbildung suchen, in der wahren Erkenntnis der wirklichen Natur auf Grund der monistischen Entwicklungslehre. Staat und Schule müssen befreit bleiben von den traditionellen Fesseln der Kirche; die reine Vernunft muß den herrschenden Aberglauben überwinden. Eine verheißungsvolle Gabe von sonnigen Hoffnungsstrahlen sendet dazu für den Beginn des neuen Jahres 1919 – einen Wendepunkt der Weltgeschichte – der zoologische Arbeiterrat der einzelligen Strahlinge, der formenreichen Radiolarien. Die beiden Unterklassen dieser wunderbaren Urtiere, von denen wir über 5000 frei im Ozean schwebende Arten kennen, sind auf der beifolgenden Neujahrskarte durch 14 Charakterformen vertreten, durch Abgeordnete von vier Legionen, acht Porulosen und sechs Osculosen. Möge die Einheit der Organisation, welche alle diese Formen trotz größter Mannichfaltigkeit verbindet, ein leuchtendes Vorbild für die Deutsche Nationalversammlung sein, die am 19. Januar zusammentritt, um über die Zukunft des neuen Deutschlands zu entscheiden.
Im Auftrage
des naturalistischen Monisten-Bundes
mit besten Neujahrswünschen
Ernst Haeckel. ||
Fräulein
Ruth Diederichs
zur freundlichen Erinnerung
Jena 25.12.1918
Ernst Haeckel.