Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Wilhelm Breitenbach, Jena, 12. April 1912

Jena 12.4.12.

Lieber Herr Doktor!

Das unsinnreiche Buch von Cyon: „Gott und die Wissenschaft“ – hat mir keinerlei Ärger verursacht, sondern nur Heiterkeit über das gehäufte Chaos von falschen und naturwidrigen Vorstellungen, die im konfusen Gehirn eines theistischen Philosophasters durcheinander wimmeln; freilich auch Erstaunen darüber, daß dieser alte Herr (wenig jünger als ich, früher Prof. der Physiologie in Petersburg) sich für einen großen „exacten“ Naturforscher“ hält und als solcher gewiß von den frommen Keplerbundleuten verherrlicht werden wird. Viele seiner Angaben sind tatsächlich falsch. ||

Sehr bedauert habe ich, daß Prof. Ostwald meine wiederholte warme Empfehlung Ihres Talentes und Ihrer Kenntnisse nicht beachtet und Sie bei der Neu-Organisation des Monistenbundes als Redakteur seines „19.tn Jahrhunderts“ nicht angestellt hat. Ob die Mitarbeiter, die er sich erwählt hat, den Vorzug wirklich verdienen, muß sich erst zeigen. (Ob Prof. L. Stein wirklich Monist ist?)

– Haben Sie in „Nord u. Süd“ (Januarheft) den Aufsatz von Ostwald über die „Brücke“ (– „das Gehirn der Welt“! –) gelesen? Ich fürchte, daß O. zu viele und zu große Aufgaben gleichzeitig in Angriff nimmt. Mir hat er seit 3 Monaten nicht geschrieben. ||

Das neue „Handbuch der Morphologie der Wirbellosen“ von Arnold Lang scheint vortrefflich zu werden. Besonders gefreut hat mich im ersten (kürzlich erschienen) Heft, die Verteidigung des „Biogenetischen Grundgesetzes“ durch Lang und seinen Schüler Tschulok; gleichzeitig die damit verknüpfte gründliche Widerlegung der unklaren Theorien von Oskar Hertwig, besonders des sogenannten „Ontogenetischen Causal „Gesetzes“ (– weder „causal“ noch Gesetz“!). Oskar Hertwig ist ein neues glänzendes Beispiel der „Psychologischen Metamorphosen“ (Virchow etc). Die Neovitalisten verherrlichen ihn jetzt – neben Reinke und Driesch!! – als Koryphae des „Wahren Vitalismus“ (d. h. des mystischen Aberglaubens!) – ||

Mit meiner Gesundheit geht es langsam aber stetig, abwärts. Die schlimmen Folgen des Sturzes (– vor einem Jahr! –) scheinen sich nicht zu verlieren; die Lähmung des Hüftgelenks bleibt. Die freie Leibesbewegung fehlt mir sehr. –

Von Ihrem „Lebensbild“ habe ich die letzten Exemplare verschenkt. Bitte mir 20 andere zu schicken (mit Rechnung!).

Mit frdl. Gruß

Ihr alter

Ernst Haeckel

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
12.04.1912
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Archiv des Helmholtz-Gymnasiums Bielefeld
ID
41108