Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Marie Eugenie delle Grazie, Jena, 12. März 1912

Jena 12. 3. 1912.

Liebe und hochverehrte Freundin!

Mit innigster Teilnahme habe ich wiederholt Ihren schmerzenreichen Bericht über das lange und qualvolle Leiden Ihres treuen Freundes und verständnisvollen Lebensgenossen gelesen. Da ich das Glück hatte, Professor Laurenz Müllner wiederholt mit Ihnen zusammen zu sehen, und mich an der Klarheit seines weiten Philosophen-Blicks, an der Güte seines menschenliebenden Herzens zu erfreuen, begreife ich, welche Qual für Sie Ärmste dieses lang hingezogene und hoffnungslose Krankenlager gewesen sein muß. ||

Es wird aber für Sie immer ein großer Trost bleiben, daß Sie ihn so lange, mit Aufopferung Ihrer Kraft und Gesundheit, treu pflegen und seine Schmerzen liebevoll erleichtern konnten. Der beste Trost wird aber jetzt für Sie, in Ihrer Einsamkeit, das Glück der Arbeit sein, der Hinblick auf das große Ganze des unendlichen Weltgetriebes, in welchem wir einzelnen Menschenkinder doch nur Stäubchen sind. Sie haben der Welt – und zwar dem besten Teile der Kultur Menschheit – durch Ihre herrlichen Dichtungen so viel Edles, Schönes und Erhabenes geschenkt, daß Sie vollbefriedigt auf Ihr wertvolles Lebenswerk zurück schauen können. ||

Auch ich habe wiederholt, nach dem Verluste der liebsten und treuesten Menschen, nur in hingebender Arbeit Trost gefunden, und endlich das Gleichgewicht der erschütterten Seele wieder gewonnen, das zum Leben notwendig ist.

‒ Von mir kann ich Ihnen nichts Erfreuliches berichten.

Die Folgen des Hüftgelenk-Bruches den ich am 20. April v. J. durch einen Sturz in meiner Bibliothek erlitt (‒ gerade an dem Tage, an welchen Prof. Hatschek und Frau aus Wien zu Besuch herreisten, ‒) sind leider nicht zu beseitigen. Ich kann nur einige Schritte, auf 2 Stöcke gestützt, gehen und habe dabei beständig Schmerzen. ||

Auch andere Beschwerden des hohen Alters bleiben nicht aus; besonders die Abnahme der Arbeitskraft und des Gedächtnisses. So muß ich denn – mit 78 Jahren – mich damit begnügen, rückwärts zu schauen, und im Schreiben meiner Lebens-Erinnerungen mich an dem vielen Schönen und Guten, das mir zu Teil geworden ist, dankbar zu erfreuen. –

Das Reisen und Bergsteigen ist nun leider auch vorbei, und so werde ich den Besuch bei Ihnen in Wien, auf den ich schon lange gehofft hatte, leider nicht ausführen können.

Mit herzlichsten Grüßen und besten Wünschen

Ihr treu ergebener

Ernst Haeckel.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
12.03.1912
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Wien
Besitzende Institution
Wienbibliothek, NL Marie Eugenie Delle Grazie
Signatur
H.I.N. 91108
ID
40898