Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Marie Eugenie delle Grazie, Jena, 24. November 1907

Jena 24. Novbr. 1907.

Hochverehrte und liebe Freundin!

Es war mir eine besondere Freude, nach so langer Zeit einmal wieder einige Zeilen von Ihnen zu erhalten. Leider melden Sie mir, daß Sie immer noch an den Folgen Ihres Beinbruches zu leiden haben, von dem ich erst jetzt überhaupt höre. Daß Sie Mitte Juli d. J. am linken Unterschenkel beide Knochen gebrochen haben, ist ein neuer Beweis für die „organische Sympathie“ unserer beiden befreundeten Organismen. Denn genau vor 12 Jahren – Mitte Juli 1895 – habe ich Ihnen dasselbe tragische Kunststück vorgemacht, und zwar bei einer botanischen Exkursion im Gebirge. ||

Da der Rücktransport schwierig war und ich erst nach 24 Stunden untersucht werden konnte, bestand Gefahr, den linken Fuß zu verlieren. Indessen ging es bei sorgfältiger Behandlung, die 50 Tage dauerte, zuletzt doch noch gut. Hoffentlich machen Sie die bösen Folgen, die mich auch mit einer starken Gemüths-Depression quälten, viel rascher ab.

Für Ihre letzten schönen Dichtungen, die ich mit großem Genusse gelesen habe, sage ich Ihnen noch nachträglich meinen besten Dank – falls es nicht schon geschehen ist. Ich bin jetzt mit Correspondenz (‒ meistens „Welträthsel“!) – so belastet, daß ich täglich ein Dutzend Briefe absolviren muss. ||

Dieses Jahr brachte mir viel Anregung und Arbeit; im Januar die Gründung des „Phyletischen Museums“, dessen Bau nächste Woche unter Dach kommt; Februar 73. Geburtstag, März 50 jähriger Dr. (mit „Excellenz“! komisch!), April Erholung an der Riviera – Mai – Linné-Feier in Stockholm und Upsala (‒ Doctor jublilaris! ‒) Juni Vortrag über das „Menschenproblem“ (den Sie bald erhalten sollen), Juli Massen-Besuche – August Museums-Bau, September Erholung in Bad Elster, Oktober neue „Welträthsel“ Sorgen und Auflagen etc. etc. –

Sie sehen, daß der Monats Kalender keine leere Seite für mich hat. Im Übrigen kann ich ziemlich zufrieden mit meinen 73 Jahren sein, wenn man das unsichere Herz an baldige „Erlösung“ denken läßt. ||

An die „Neue Freie Presse“ habe ich heute geschrieben, daß es mir leider unmöglich ist, ihren Wunsch zu erfüllen und einen Beitrag zur Weihnachts-Nummer zu liefern. Ich muß fast täglich ähnliche Gesuche ablehnen.

Mit herzlichsten Grüßen an Sie und unseren Freund Prof. Müllner

Ihr treu ergebener

Ernst Haeckel.

[Beilage egh. Porträtpostkarte: Professor Ernst Haeckel Jena in seinem Arbeitszimmer]

Jena 24. 11. 1907.

Herzliche Grüsse und beste Wünsche vom alten Pithecantropus-Enkel in Jena Ernst Haeckel.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
24.11.1907
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Wien
Besitzende Institution
Wienbibliothek, NL Marie Eugenie Delle Grazie
Signatur
H.I.N. 91104
ID
40893