Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Marie Eugenie delle Grazie, Terracina, 25. September 1904

Terracina 25. Septb. 1904.

Hochverehrte Freundin!

Erst heute erhielt ich Ihr Telegramm das mir von Jena nachgeschickt wurde. Ich bin schon seit 15.9. unterwegs. Am 20.-23. habe ich in Rom dem großen internationalen Freidenker Congress beigewohnt, der sehr besucht war (über 3000 Teilnehmer aus aller Welt); sehr lebhafte Debatten. Meine Thesen für Gründung eines Monisten-Bundes finden Sie im letzten Heft (21.9.) des „Freien Wort“ (Frankfurt). Am 22. hatte der Congress ein großes gemeinsames Frühstück in den Ruinen der Kaiser-Paläste (Palatin); ich wurde zum Gegenpapst erwählt! Am 23. Nachmittags erhebende Feier am Denkmal von Giordano Bruno, an dem ich einen Kranz (per la Germania) stiftete. Es war mein letzter Congress! – ||

– Ihren telegrafischen Wunsch hätte ich natürlich sehr gern sofort erfüllt; so war es leider nicht möglich. Sie werden aber in diesen Tagen (– ebenso auch die Redaction der „Neuen Freien“ Presse –) das fertige Buch über die „Lebenswunder“ (560 Seiten) vom Verleger (Kröner in Stuttgart) direct zugesandt erhalten.

Selbstverständlich werde ich Ihnen sehr dankbar sein, wenn sie es in der N. Fr. Presse besprechen werden. Viel Gewicht habe ich auf die Widerlegung des Dualisten Kant (Nr. II !!) gelegt, ferner auf die Einheit der Natur und die schwierigen Fragen vom „Lebensursprung“. Sehr dankbar würde ich Ihre offenen Ansichten über die Mängel des Buches (Wiederholungen, Breiten etc.) aufnehmen, um späteren Auflagen zu verbessern. – ||

Von dem colossalen Trubel des Congresses war ich so ermüdet, daß ich gestern in die Einsamkeit des Volsker-Gebirgs und an das herrliche Meer am Cap der Circe flüchtete. Ich denke noch 8 Tage in Mittel Italien (Albano, Siena, Bologna) zu bleiben, und am 8. oder 9. October über München (wo mein Sohn jetzt wohnt) nach Jena zurückzukehren.

Im Hinblick auf meine 70. Jahre habe ich die starke Arbeit und Strapazen des letzten Jahres gut überstanden.

Hoffentlich geht es Ihnen und unserem Freunde Prof. Müllner gut!

Mit besten Grüßen an Sie Beide

Ihr alter

Ernst Haeckel.

(Antipapa electus voce Congressus).

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
25.09.1904
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Wienbibliothek, NL Marie Eugenie Delle Grazie
Signatur
H.I.N. 90697
ID
40887