Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Marie Eugenie delle Grazie, Jena, 20. Mai 1904

Jena 20. Mai 1904.

Hochverehrte Freundin!

Da Sie sich für Ernst Haeckel nicht allein als monistischen Philosophie-Dilettanten, sondern auch als „Mensch“ (‒ resp. als „Primaten“ niederen Ranges! ‒) ein wenig interessiren, sende ich Ihnen beifolgend zur Vervollständigung seines Character-Bildes 2 Reden, die 2 seiner besten Schüler am 16.2. in Zürich gehalten haben.

In angenehmer Erinnerung an den schönen Besuch, den ich Ihnen Pfingsten vor 2 Jahren abstatten durfte, wünsche ich Ihnen für die nahenden Pfingsttage (‒ die ich auf dem Brocken zubringen will, ‒) alles Gute! Mit herzlichen Grüssen, auch an unseren Freund Prof. Müllner stets Ihr treu ergebener

Ernst Haeckel (Septagenarius).

[Beilage autographiertes Schreiben:]

Nach meiner Rückkehr aus Italien, wo ich den letzten Winter verbrachte, fand ich hier in Jena eine erdrückende Fülle von Briefen, Drucksachen und anderen Postsendungen vor. Darunter befanden sich zahlreiche nachträgliche Glückwünsche zu meinem siebzigsten Geburtstage, den ich am 16. Februar d. J. in Rapallo an der Riviera levante beging; ferner sehr viele Anfragen betreffend schwierige Probleme, die ich in meinem Buch über „die Welträthsel“ ungenügend erörtert habe. Die Antwort auf diese philosophischen Anfragen werden die geehrten Correspondenten in einer biologischen Schrift finden, die ich während des Winters am Gestade des Mittelmeers verfasst habe, und die im nächsten Herbst als Ergänzungsband der „Welträthsel“ unter dem Titel: „Die Lebenswunder“ erscheinen wird.

Da es mir leider unmöglich ist, allen den geehrten Correspondenten (‒ deren Zahl allein im letzten Jahre Dreitausend überschritten hat ‒) persönlich zu antworten, muss ich sie bitten, in diesen Zeilen meinen besten Dank für ihre Teilnahme an meinen Arbeiten entgegen zu nehmen. Zugleich möchte ich sie aber daran erinnern, dass die monistische Weltanschauung, die ich als Ergebniss meiner Lebensarbeit in meinen Schriften niedergelegt habe, ebenso unvollkommnes Stückwerk bleibt, wie die Philosophie aller anderen denkenden Menschen. Viele offene Fragen würde ich auch dann nicht beantworten können, wenn || mir Zeit und Kraft in genügendem Maasse zu Gebote stünden. Leider ist dies aber nicht der Fall. Ich kann daher auch den zahlreichen Bitten um Besprechung von Schriften und Durchsicht von Manuskripten zu meinem Bedauern keine Folge leisten. Indem ich das achte Decennium eines vielbewegten, arbeitsfreudigen und kampfreichen Lebens antrete, fühle ich dringend das Bedürfniss nach beschaulicher Ruhe und verzichte auf weitere Arbeit in dem Bewusstsein, nach besten Kräften zur Erkenntniss der natürlichen Wahrheit beigetragen zu haben.

ERNST HAECKEL.

Jena, 28. April 1904.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
20.05.1904
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Wienbibliothek, NL Marie Eugenie Delle Grazie
Signatur
H.I.N. 90696
ID
40886