Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Bartholomäus von Carneri, Jena, 20. Dezember 1898

ZOOLOGISCHES INSTITUT

DER UNIVERSITÄT JENA.

JENA, DEN 20.12.98.

Lieber hochverehrter Freund!

Für Ihren lieben Brief danke ich Ihnen herzlich, um so mehr als er unter großen Leiden geschrieben ist, die nur Ihre englische Geduld so heiter tragen kann! Hoffentlich genießen Sie das Weihnachtsfest in leidlichem Wohlsein und beginnen das neue Jahr besser! Ich sende Ihnen und Ihren lieben Kindern dazu meine besten Wünsche!

– Für mich war das verflossene Jahr auch wenig erfreulich! Meine arme Frau hat den größten Theil desselben (wie schon die drei letzten Jahre) im Bette zubringen müssen. ||

Sowohl dieses körperliche (Herz) Leiden, als auch die Sorge um unsere gemüthsleidende, bei uns einsam lebende Tochter (jetzt 25. Jahre) wirken sehr deprimirend! Wir haben schon seit Jahren jeden geselligen Verkehr aufgegeben.

Ich selbst nehme mir Ihre Geduld und Resignation zum Muster, und suche den Rest meiner Kräfte (– die auch sehr abnehmen, besonders das Gedächtniß! –) so gut im „Kampf um die Wahrheit“ auszunutzen, als es geht. ||

Meine Cambridge-Rede über „Unsere gegenwärtige Kenntniss vom Ursprung des Menschen“ hat großen Eindruck gemacht. Von dem Separat-Abdruck (mit Anmerkungen, bei Strauss erschienen) kommt bereits die III. Auflage. Also war diese (in mancher Beziehung mir nicht sympathische) Congress-Reise wenigstens nicht umsonst!

Meine Absicht, im September einige Erholungs-Wochen in den Alpen zuzubringen, scheiterte an einem neunen Anfall meines alten Rheumatismus. Ich mußte statt dessen 3 Wochen eine Cur in Baden-Baden gebrauchen. Jetzt geht es wieder leidlich! ||

Das stille Kloster-Leben in meinem hiesigen Institute wird mir ebenso wie der einsame Verkehr mit unserer herrlichen Wald- u. Gebirgs-Natur immer werthvoller – um so mehr je unerfreulicher sich die moderne Entwicklung an dem byzantinischen Kaiserhofe in Berlin und in Ihrer „deutschen“ Kaiserstadt Wien etc etc (– Paris! Rom! –) gestaltet. Physiologisch ist ja Ihr liebes Oesterreich sehr interessant, als ein centripetaler Organismus, der sich aus lauter centrifugalen Gliedern zusammensetzt! Mit herzlichsten Grüßen u. besten Wünschen

Ihr treuer alter

Ernst Haeckel

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
20.12.1898
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Slg. Wilhelm Börner
Signatur
H.I.N. 167253
ID
40194