Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Richard Semon, Jena, 31. März 1902.

Jena

31.3.1902.

Lieber Semon!

Für Ihre offenherzige Mittheilung , von der ich natürlich Dritten gegenüber keinen Gebrauch machen werde, sage ich Ihnen meinen aufrichtigen Dank. Nach Ihren Mittheilungen begreife ich vollständig, daß Sie sich an der „Festschrift“, die von meinen Schülern zur Feier meines 70.sten Geburtstages geplant ist (– und von der ich bisher Nichts wußte –), nicht betheiligen wollen. Ich möchte übrigens sehr bezweifeln, daß diese „Überraschung“ wirklich zustande kommt; denn unter meinen zahlreichen, dabei in Betracht kommenden Schülern sind wohl nur sehr Wenige, die mich nicht zum unbrauchbaren „Alten Eisen“ werfen. ||

Was ich in den letzten Jahren in dieser Beziehung erlebt habe (– nicht allein der Abfall von den wichtigsten wissenschaftlichen Überzeugungen, sondern auch die theils aufrichtige, theils geheuchelte Geringschätzung meiner Person und meiner Lebensarbeit –) und zwar von „lieben Schülern“ die mir zum größten Dank verpflichtet wären – das hat mich auf jene Höhe der Weltbetrachtung geführt, auf der man mit vollkommener Resignation den Lauf der Dinge objectiv verfolgt und sich alle subjectiven Interessen und Empfindungen abgewöhnt. Wenn man sieht, welche kläglichen Gesellen in der Wissenschaft wie im Leben die erste Rolle spielen, und wie urtheilslos ihnen die Menge applaudirt – ist der Rest in „Schweigen“! ||

Das interessante Kapitel der „Psychologischen Metamorphosen“, das ich im Kap. VI. der „Welträthsel“ (S. 107) angeschnitten hatte, könnte ich jetzt durch neue drastische Beispiele illustriren. Oscar Hertwig wird bereits als Vitalist und „Widerleger des biogenetischen Grundgesetzes“ gefeiert! Verworn, der in seiner Göttinger Antrittsrede (April 1901) die Behandlung der Psychologie als Theil der Physiologie – ganz im Sinne Joh. Müllers – vertrat, hat sich nach 6 Monaten von der Richtigkeit des Gegentheils überzeugt, und belehrt uns in der (programmatischen!) Einleitung zu seiner neuen Zeitschrift für Allgem. Physiologie, daß die Psychologie Nichts mit der Physiologie zu thun habe (Octob 1901). – Ich wundere mich über gar Nichts mehr! ||

Ich fand Ihren Brief hier nach der Rückkehr von Berlin, wo ich die langweilige Aufgabe erfüllen mußte, dem Bildhauer Magnussen Modell zu stehen für das Denkmal, das mein edler Gönner Dr. Paul von Ritter mir hier errichten will (Bronze-Standbild von 3m Höhe, auf dem Platz vor dem Institut). Ich war deßhalb zu Weihnachten bei Dr. v. R. und suchte ihn – vergeblich! – zu bewegen, die große dafür ausgesetzte Summe 60.000 Mka zu einer Stiftung (die meinen Namen trüge) oder zur Herausgabe eines Prachtwerkes zu verwenden. Unser Freund ist aber, wie Sie wissen, äußerst hartnäckig in seinen Entschlüssen und bestand durchaus auf dem „Denkmal“. Zum Glück will er die Ausführung sehr einfach haben, ohne Symbole etc.

Mit freundlichsten Grüßen an Sie und Ihre liebe Frau

Ihr alter

Ernst Haeckel.

a eingef.: 60.000 Mk

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
31.03.1902
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Bayerische Staatsbibliothek München, Abt. für Handschriften und Seltene Drucke
Signatur
Cgm 8032
ID
39865