Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Eduard von Hartmann, Jena, 7. Juli 1875

Jena 7. Juli75

Hoch geehrter Herr Doctor!

Ihr freundlicher, heute eingetroffener Brief kömmt mir auf halbem Wege entgegen, da ich schon seit einigen Tagen im Begriff stand, Ihnen für Ihre so eben erschienene Besprechung meiner Arbeiten in der „Deutschen Rundschau“ meinen herzlichen und aufrichtigen Dank zu sagen. Nach dem vielen Unzutreffenden, Schiefen und Einseitigen, was in letzter Zeit von Freund und Feind für und wider meine Bücher gesagt worden ist, darf ich wohl gestehen, daß mir Ihre gerechte und unparteiische Würdigung – soweit im selbst hierin objektiv urtheilen kann – mir am meisten das Richtige getroffen zu haben scheint und mich dadurch mit einer großen Genugthuung erfüllt hat. Besonders gefreut hat mich Ihre Würdigung der „Generellen Morphologie“, die in der That das Programm meiner wissenschaftlichen Lebensaufgabe enthält; hoffentlich bleibt mir noch eine Reihe von Jahren Kraft und Gesundheit, um einen Theil desselben nach dem anderen auszuführen; und schließlich eine gänzlich umgearbeitete zweite Auflage des Werks zu Stande zu bringen. Zunächst halte ich es für zweckmäßiger, Stück für Stück vorzunehmen und nicht zu viel Neues auf einmal zu bringen.

Wie wichtig letzteres ist, sehe ich jetzt an dem verhältnißmäßig colossalen Erfolg der Gastraea-Theorie (die doch nur einen kleinen Theil der vergleichenden Ontogenie bildet) innerhalb der Fachkreise. Ich bin jetzt fast ausschließlich mit Fortsetzung der letzteren beschäftigt und hoffe sie nächstens zu einem sehr befriedigenden Abschluß zu bringen.

Während meines Aufenthalts auf Corsica (im März und April) – der in jeder Beziehung sehr lohnend und interessant war – fand ich Gelegenheit, die Gastrula-Bildung bei Embryonen der verschiedensten Thierklassen genau zu verfolgen und den Nachweis zu führen, daß alle hier bestehenden Verschiedenheiten sich auf eine einzige gemeinsame Grundform (– wie sie bei den Kalkschwämmen Amphioxus etc. sich findet –) sicher zurückführen lassen. Damit ist das Gastraea-Problem, daß ich vor drei Jahren etwas kühn in die Welt gesetzt hatte, glücklich gelöst und die Homologie der primaeren Keimblätter sicher bewiesen.

Bei der III.Auflage der Anthropogenie, mit deren Bearbeitung ich jetzt beschäftigt bin, werde ich Ihre freundlichen Winke, – für die ich Ihnen sehr dankbar bin – zur Verbesserung benützen. Ihre werthvolle Schrift „Wahrheit und Irrthum im Darwinismus“ habe ich mit großem Interesse gelesen. Sie hat eine Menge von Gedanken in mir angeregt, die ich Ihnen gerne aussprechen möchte, wenn sie kurz zu Papier zu bringen wären. Es wird sich, hoffe ich, später dazu Gelegenheit finden.

Ich glaube, daß Sie doch zu wenig Gewicht auf die Selection legen (wie ich meinerseits zu viel!) Uber die Teleologie, die im Mechanismus aufgeht, würden wir uns wohl einigen können. Aber das teleologische Publicum will gerade von dieser Art Teleologie Nichts wissen! –

Haben Sie Fritz Schultzes Schrift Kant und Darwin gelesen? Andernfalls würde es mir ein Vergnügen sein, Ihnen dieselbe umgehend zu senden.

Mit den besten Wünschen für Ihre Gesundheit und glücklichen Erfolg der Bade-Kur, sowie mit wiederholtem Dank

Ihr ganz ergebenster

Ernst Haeckel

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Datierung
07.07.1875
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Unbekannt
ID
39555