Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Würzburg, 1. Januar 1853

Würzburg, am Neujahrsabend 1853!

Meine geliebten Ältern!

Nachdem ich bis heute Abend, den ich als letzten Wartetermin mir festgesetzt hatte, vergeblich auf einen Brief von euch gewartet, benutze ich die Zeit, wo meine sämmtlichen commilitones auf dem großen Neujahrsballe auf der Harmonie eifrig beschäftigt sind, um euch meine innigsten kindlichen Glückwünsche zum neuen Jahr darzubringen. Der Brief müßte eigentlich heute schon bei euch eingetroffen sein, allein da ich von Stunde zu Stunde immer noch dachte, es würde eine Antwort auf meine beiden letzten Briefe erscheinen, wurde es so spät. ||

Unter den vielen Herzenswünschen, die ich stets, ganz besonders aber am Anfange dieses Jahres für Euch und Euer Wohlergehen hege, ist wohl der innigste und einer der am tiefsten gefühlten derjenige, daß ihr an eurem Jungen noch rechte Freude erleben möget! Das könnt ihr versichert sein, daß er seinerseits alles, was in seinen Kräften steht, aufbieten wird, um dieser Pflicht möglichst nachzukommen und eurer noch recht würdig zu werden! Bis jetzt habe ich euch freilich noch viel Sorge gemacht, und blicke noch selbst mit ebensoviel Sorge in die Zukunft. Allein ich fühle doch, daß ich in der letzten Zeit wenigstens etwas an Muth und Gottvertrauen zugenommen habe, und das wird mir ja schon weiter helfen! Wenn ich freilich am Schluß des vergangenen Jahres auf mein Leben zurückblicke, möchte ich || gleich allen Muth für die weitern Schritte in die Zukunft verlieren! Wie wenig hat das doch den tausend Erwartungen und Hoffnungen entsprochen, die ich von ihm, namentlich anfangs hegte. Ich dachte einmal wieder recht lebhaft an die Neujahrsferien des vorigen Jahres, die ich in eurem Kreise verlebte. Da steckte ich noch in der heißen Examennoth, welche ich aber durch die blühendsten sanguinischen Hoffnungen von Studentenleben, Studium der Naturwissenschaften u.s.w. mir zu versüßen suchte. Und wie sind nun diese eine nach der andern zerronnen und zerschellt; wie ist auch nicht eine einzige so recht in Erfüllung gegangen, und welche Aussichten habe ich nun für die Zukunft? – Doch es ziemt sich ja nicht und am allerwenigsten am Anfanga eines neuen Jahres, daß der Mensch mit seinem Schicksal und mit Gott hadre; ich will lieber mit Dank das Gute erkennen, was mir Gott noch gelassen, wohin vor allen ihr selbst, meine liebsten Ältern, gehört, ihn bitten, mich dies auch ferner genießen lassen, und dann vorzüglich mir Muth und Kraft zu schenken für meinen fernern Lebensweg, dessen Richtung er mir recht klar zeigen möge! Ja, ich habe den festen Vorsatz gefaßt, mich nicht von jeder Schicksalswendung gleich umwerfen zu lassen, sondern mich zu bestreben, immer männlicher und fester zu werden, und stillen, aber sichern und getrosten Schrittes auf mein Ziel los zu gehen. Ich habe ja an euch eine Stütze, auf die ich mich stets verlassen kann. – Wie wird es wohl heute überm Jahr mit mir aussehen? – ||

Das Titelbildchen dieses Briefes stellt Ernst Haeckel ungefähr so dar, wie er sich selbst vergangene Nacht in einem Traume – ob wirklich der wahren Zukunft? – erschienen ist. Ihr werdet euch über den Wirrwarr und die sonderbare Komposition wohl nicht wenig wundern!

– Soviel ich daran ersehen kann, liegt die b Medicin im Winkel, hinter dem Baum verborgen. „Des Lebens goldner Baum“ ist und bleibt aber doch die Botanik! Er befindet sich grade in seinem classischen Momente, indem er mit dem rechten Auge und der rechten Hand das zeichnet, was er in dem Mikroscop mit dem linken Auge (vor das er die Hand hält, um das Nebenlicht abzuhalten) sieht. Vor ihm auf dem Tische steht außerdem eine galvanische Batterie, Magnet, Pincette, Deckgläser, chemische Reagenzgläser und dergleichen naturwissenschaftlicher Hausrath mehr. Hinten links steht das Schreckbild der Zukunft, eine schwarze Schultafel mit einer ellenlangen mathematischen Formel, die noch auszurechnen ist. Im Vordergrund Berghaus physikalischer Atlas, der überhaupt jetzt den ganzen Vordergrund von Ernst Haeckel selbst bildet! – Ach wenn es doch einmal in Vollkommenheit so aussähe! – Daß ich gestern nicht bei euch sein konnte, wollte mir gar nicht recht eingehen, und weckte in dieser Beziehung noch viel traurigere Gedanken und Rückerinnerungen, als das Weihnachtsfest selbst. Es war mir immer, als müßte ich gleich zu euch hinfliegen, und doch ging das nicht. Desto mehr aber war ich auch in Gedanken und Sinn bei euch! ||

Sogar das kam mir so sonderbar und unnatürlich vor, daß ich nicht einmal den Sylvesterabend mit Punsch, Kartoffelsalat und gebratenen Kastanien, wie in allen vorigen Jahren mit euch, feiern sollte, und wie ihr es auch wohl diesmal bei Großvater thatet. Zum Ersatz dafür gönnte ich mir um 6 Uhrc ein saftiges Beafsteak mit Kartoffeln, und sogar einen Schoppen Wein (für lange Zeit den letzten!) Allein es wollte mir doch nicht recht munden und gar nicht, wie im lieben Elternhaus schmecken!

– Vorher um 5 Uhr war ich in der hellerleuchteten Kirche, wo eine d kurze und einfache, aber recht passende Sylvesterpredigt gehalten und dann die Kirchennachrichten der evangelischen Gemeinde für das verflossene Jahr vorgelesen und durchgenommen wurden. Obschon ich gleich nach Voll kam, war doch der ganze ungeheure Raum schon so voll, daß iche mit vielen andern draußen vor der Thür bleiben mußte. – Nachdem ich um 7 Uhr zu Hause gekommen, nahm ich meinen geliebten, alten Faust einmal wieder her und las ihn mit immer erneutem und vermehrtem Vergnügen, zugleich auch mit wachsendem Verständniß, zum Xten Male durch. Ich kann euch gar nicht sagen, wie die Lectüre dieses größten Dramas mich allemal wunderbar umwandelt, und aus dem Wust der Alltagsgedanken „zu den Gefilden hoher Ahnen“ hebt. Es ist wirklich ganz einzig in seiner Art und regt in dem Leser allemal eine ganze Welt von Gedanken auf. Auch gestern überließ ich mich noch f lange Zeit diesen mannichfaltigen und doch so harmonischen und tiefen Ideen. Dann schwelgte ich noch kurze Zeit in meinem theuersten Berghaus, der mir jetzt meistens Tag und Nacht im Sinne liegt, und ging gegen 12 Uhr auf die Mainbrücke, wo ich es wider Erwarten ganz leer und still fand. Dagegen war in allen Kneipen ein ganz schauderhaftes Toben. ||

In der düstern Stille, welche auf dem Flusse und dem jenseitigen Mainviertel gelagert war, und welche prall mit dem Tosen und Schreien in der Stadt abstach, machten die Kanonenschüsse, welche von 12–12¼ Uhr ununterbrochen von der Veste herabdonnerten, einen ganz imposanten Eindruck. Da die Nacht stockfinster war, und nur zuweilen die Wellen des Mainstroms durch den ziemlich dichten auf ihnen gelagerten Nebel hindurchblickten, oder g einzelne Lichter der am Ufer stehenden Häuser wiederspiegelten, so ergoß sich bei jedem Schuß aus den Kanonenröhren ein sprühender und funkelnder Feuerregen, der in der dicken Finsterniß sehr glänzend erschien. Der Pulverdampf zog sich in dichten Nebelwolken herab, und breitete sich über Stadt und Strom aus; wenn man nun h noch den vielfach im Thalkessel widerhallenden Donner des Geschützes hinzunimmt, so kam wirklich ein magischer und erschütternder Effect heraus. –

Heute früh hörte ich wieder eine gute Predigt bei demselben alten Pfarrer, den ich schon am ersten Weihnachtsfeiertag gehört hatte. Er wandte den Text „Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir –“auf die christliche, und insbesondere protestantische Kirche, auf das Vaterland (unter der Voraussetzung, daß dieses Gott nicht verließe) und endlich auf die einzelnen christlichen Brüder und Schwestern der Gemeinde an. Ich kann wohl sagen, daß dadurch wieder mancher erneute gute Vorsatz in mir weiter bestärkt und befestigt i wurde, und ich in meinem festen Willen noch mehr beschloß, gewiß dieses Jahr mit mehr Charakterstärke und Gottvertrauen, wenn selbst unter noch ungünstigeren Verhältnissen, als das vorige, durchzuführen. ||

Heute Nachmittag machte ich, da es ganz außerordentlich mildes und warmes Mai-Wetter war, allein einen ziemlich großen Spaziergang. Ich ging über die Brücke und dann auf einen ziemlich hohen Berg südwestlich von der Veste gelegen, (nach Zell zu) von wo ich bei schönem Abendroth eine herrliche Aussicht über das Mainthal genoß und zwar über die Krümmung des Stroms, welche von der Stadt abwärts sich ganz westlich erstreckt, und einen länglich ovalen Thalkessel bildet. Zu meiner Rechten lag hoch die Veste, und weiter unten das Mainviertel, vor mir grade gegenüber ein bedeutender Höhenzug (auf dem rechten, jenseitigen Ufer), der an einer Stelle mit dunkelm Kiefernwald und einer alten Burgruine geziert war. Ganz links, wo der bedeutende Fabrikort Zell liegt, macht der Strom eine anmuthige Krümmung wieder nach Norden und verliert sich dann in blauer Ferne, (die mir immer das liebste ist, und die ich minutenlang sehnsüchtig ansehen muß) zwischen noch höhern Bergen. j Die zwischenliegende Thalsohle war schon ganz grün von junger Saat, wie auch die Bäume die schönsten Knospen haben und die Haselnüsse schon blühen. Es mochte ungefähr +8o R. sein. Hätte man nicht ausdrücklich gewußt, daß es Neujahr wäre, so würde man eine April- oder Mai-Landschaft vor sich zu sehen geglaubt haben. Der Rasen ist überall schon ganz von Cotyledonen grün.

Einen höchst anziehenden Eindruck machte die Ruhe, die über der ganzen Landschaft ausgebreitet lag, und nur zuweilen durch das Läuten der Klosterglocken unterbrochen wurde. Was überhaupt zusammengeläutet wird, das glaubt ihr gar nicht. Von früh 6 – Abends 6 jede Viertelstunde, und zwar meistens 5 Minuten lang. Wahrscheinlich stammt daher das Lied: Würzburger Glöckli – ||

Seit vorgestern befinde ich mich nun in meiner neuen Wohnung: District I 358, die mir außerordentlich gefällt. Im allgemeinen zeigt sie folgende Einrichtung:

Die eigentliche Wohnstube ist 15‘ breit, mit 2 Fenstern Front, und 12‘ breit; sehr nett meublirt und eingerichtet; die nebenanliegende sehr frische und luftige Schlafkammer ist ebenso lang, aber nur 10‘ breit. Fast das einzige k zu tadelnde ist die Dunkelheit, indem sehr nah gegenüber ein ziemlich hohes Haus steht. Dagegen ist die Wirthin ganz vortrefflich; und so thätig und sorgsam, wie eine Mutter, daß es oft ganz rührend ist, und ich in dieser Beziehung nichts mehr wünschen kann. Es ist [eine] alte, höchst gutmüthige und freundliche, sehr fleißige, aber einäugige, überhaupt nicht sehr schöne Frau, sehr reinlich und ordentlich. Sie lebt nur mit ihrer einzigen 30 Jahr alten Tochter zusammen, welche durch Gicht an den Füßen ganz gelähmt ist, und nur Stricken, Nähen und dergleichen verrichten kann. Der Preis der Wohnung (alles im Allem nur 5 Gulden) ist sehr billig, und ich denke den Leuten, da sie sehr arm und ordentlich sind, auch so manchmal was zu kommen zu lassen. Unter andern wird sie mir waschen, flicken u.s.w. ||

Nun mußl ich Dir noch vor allen Dingen, meine liebste Mama, den Dank für die Herrlichkeiten alle wiederholen, die Du mir zum Weihnachten geschickt hast. Als ich am ersten Feiertag nur rasch den ersten flüchtigen Dank abschickte, hatte mich noch mein theuerster Berghaus so in Anspruch genommen, daß ich die Einzelheiten der andern Geschenke alle noch gar nicht erforscht hatte. Sie sind erst nach und nach ans Licht gekommen und haben mir dann immer neue Freude gemacht. Die delikate Leberwurst hat mir bereits, in Verbindung mit je 2 xr Brot, Abendbrot für die ganze vergangene Woche geliefert. In dieser kommt nun die andre dran. Das Pflaumenmuß habe ich erst heute geöffnet und gekostet, wobei ich mit Betrübniß bemerkte, daß es wohl nicht lange sein Leben fristen wird, da es dazu viel zu gut ist. Das schöne Zuckergebäck hat seine Dienste großentheils auch schon mir und meinen Freunden geleistet. Den grösten Beifall fanden aber Deine selbstgebackenen trefflichen Theekuchen, weshalb sie auch zuerst alle waren. Nochmals den herzlichsten Dank für Deine mütterliche Sorgsamkeit und Zärtlichkeit. Das Schachspiel ist gleichfalls schon eingeweiht: ich habe Lavalette 2 Parthien (die eine nur mit großer Mühe) abgenommen. Außerdem werde ich öfter mit einem netten, sehr gemüthlichen Schlesier spielen, welcher || aus Goerlitz ist, Steudner heißt, und die Medicin bloß um der Botanik willen treibt, auch später große Reisen, namentlich nach Ostindien, machen will. Er hat sehr viel in der Botanik los, namentlich bedeutend in den Kryptogamen.

– Im übrigen habe ich, mit Ausnahme des tollen Umzugs, wobei ich mich noch über meine alte Frau Wirthin, eigentlich 1 rechte böse 7, tüchtig geärgert habe, diese Woche sehr still verlebt. Die meiste und liebste Beschäftigung ist immer der physikalische Atlas, mit dem ich nun allmählich auch in den Einzelnheiten vertrauter werdem. Nur eine Karte ist darin, die meinem anti-medicinischen Herzen nicht recht gefallen will, nämlich diejenige über die Verbreitung der hauptsächlichsten Krankheiten! –

Habt nochmals den besten Dank für das herrliche Geschenk. Im microscopischen Cours habe ich diese Woche eine große Freude gehabt, nämlich lange eine Pflanze beobachtet, welche heißt: Navicularia. Sie n erscheint bei 300maliger Vergrößerung so: [Kieselalge, am linken Rand] und besteht aus einer einzigen Zelle mit kieselschaliger Wandung und deutlichem Zellenkern, und ist in fortwährender mannichfaltiger und oft sehr lebhafter Schwimmbewegung begriffen! Ist das nicht höchst merkwürdig?

– Nun noch die herzliche Bitte, recht bald zu schreiben; ist denn meine Zeichnung richtig Heiligabend angekommen? Ich hatte es wenigstens so berechnet. Wie habt ihr denn das Fest verlebt? Herzliche Grüße an alle Freunde und Verwandte; die besten an euch selbst, von eurem alten Ernst Haeckel.

P. S. Indem ich Euch um Zusendung des Homer bat, hatte ich das griechische Original gemeint, das einen ganz andern Genuß gewährt, als die Übersetzung. Indeß lese ich ihn auch so einmal wieder ganz gern.o

a korr. aus: Anfangs; b gestr.: Bota; c gestr: ,; d gestr.: eine; e korr. aus: wir; f gestr.: d; g gestr.: d.; h gestr.: d; i gestr: d; j gestr.: Das; k gestr.: W; l eingef.: muß; m irrtüml.: wird; n gestr.: ist; o Text weiter am linken Rand von S. 7: P.S. … ganz gern.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
01.01.1853
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 39332
ID
39332