Haeckel, Ernst

Jena 21 Novbr. 71

Liebste Mutter!

Morgen ist nun der Tag, an welchem unser guter lieber Vater sein neunzigstes Jahr vollendet haben würde. Wie oft hatten wir schon an diesen besonderen Festtag gedacht und uns darauf gefreut. Es wäre schön gewesen, wenn wir ihn noch mit unserem lieben Entschlafenen in verhältnißmäßiger Kraft und Frische gefeiert hätten. Und doch müssen wir jetzt dankbar sein, daß ihm sein Ende leicht und sanft geworden ist. Hätte unser guter Vater sein neunzigstes Jahr in Schmerzen und Krankheit vollendet, es wäre doch noch viel trauriger gewesen. ||

Dir, liebste Mutter, wird der morgige Tag eine Quelle vieler schöner Erinnerungen, aber freilich auch neuen Schmerzes sein, da Du diesen Festtag, den größten Festtag unserer Familie, diesmal allein und einsam feierst. Ich denke mir, vielleicht wirst Du auf einige Stunden nach Potsdam fahren. Wie gerne käme ich selbst morgen auf einige Stunden zu Dir, um Dich zu trösten und aufzuheitern! Aber ich sitze so in lauter Arbeit dick drin, und bin außerdem durch meine unangenehmen Decanats- Geschäfte so gefesselt, daß ich nicht einen Tag fort kann. ||

Ich hoffe, zwischen Weihnachten und Neujahr auf einige Tage zu Dir kommen zu können.

Agnes wollte Dir heute auch selbst schreiben. Unsere kleine Lisbeth, die sonst so munter war, ist aber seit gestern so unruhig und unbehaglich, daß Agnes fortwährend mit ihr beschäftigt ist. Wahrscheinlich wird sie Zähne bekommen.

Walter ist jetzt sehr frisch und munter, den ganzen Tag lebendig und oft kaum zu bändigen. Er erzählt immer sehr Viel von der „lieben Berliner Großmamma“ und dem „lieben Großpapa, der auf dem Sopha liegt und kalte Hände hat“, und dann wieder vom zoologischen Garten und besonders dem Elephant. ||

Carlchen geht es recht gut. Der kleine Studiosus ist recht frisch und munter. Das Studentenleben scheint im recht zu gefallen, und meine Schüler, unter denen jetzt recht nette Leute sind, geben sich mir zu Liebe recht viel mit Carl ab. Die Vorlesungen interessiren ihn sehr, – nur nicht die meinigen!! Für Naturwissenschaft hat der gute Junge auch kein Fünkchen Talent und Neigung! Wegen seiner Kiste habe ich nach Apolda geschrieben, aber noch keine Antwort erhalten.

– Von Bruder Carl werde ich hoffentlich bald Besserung hören.

– Nun noch die herzlichsten Grüße, liebste Mutter, und den Wunsch, daß Dir Morgen des lieben Vaters Geburtstag nicht zu schwer werde, von Deinem

treuen Ernst.

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Datierung
21.11.1871
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38627
ID
38627