Haeckel, Ernst

Jena 15. Oct. 71

Liebste Mutter!

Heute ist es erst 14 Tage, daß unser guter lieber Vater uns verlassen hat, und doch kommt es mir schon so sehr lange vor! Ich bin täglich in Gedanken Viel bei Dir gewesen bedaure so oft, daß ich nicht auf eine Stunde zu Dir hinüber fliegen kann, um Dich zu trösten und zu erheitern! Ich habe schon gedacht, ob Du nicht am Ende doch noch jetzt einmal auf ein paar Wochen zu uns herkämest. Wenn es auch leider nicht sehra bequemb ist, bei der fürchterlichen Enge unsres Familien- Käfigs, daß Du ganz bei uns wohnst, so könntest Du doch vielleichtc den ganzen Tag bei uns sein und ich könnte Dir ein bequemes Zimmerchen im Deutschen Hause miethen, das gar nicht weit von hier ist. ||

Wenn es Dir nicht zu eng ist und zu unbequem, könntest Du auch in der hinteren Kammer schlafen, wo jetzt Speisekammer ist. Die ließe sich aber theilweise ausräumen. Übrigens ließe sich ein kleines meublirtes Zimmer leicht auf einige Zeit finden.

Ich möchte gar zu gerne Dich hier haben, liebste Mutter, und will Alles, was ich kann, thun, um es Dir bei uns so behaglich als möglich zu machen. Ich denke immer, wie einsam es Dir in dem großen öden Berliner Quartiere sein wird! Wenn nur erst der Winter vorüber ist, dann wird es Dir schon behaglicher wieder werden! ||

Bei uns geht es gut. Die Kinder sind munter, ebenso Agnes. Du hattest Agnes ein schwarzes Kleid schenken wollen; sie besitzt aber derer schon zwei, läßt Dich also bitten, es nicht thun. Ich selbst habe jetzt sehr Viel zu thun, außer der Vollendung meiner Schwamm- Arbeit sehr viel Decanats- Akten- Schreiberei, was mir sehr langweilig ist. Es muß aber gemacht werden.

Für Karlchen habe ich eine sehr hübsche Stube in unserer Nähe, in der Neugasse, bei meinem Pedell, einem sehr ordentlichen Mann gemiethet. ||

Unser lieber Carl ist hoffentlich wieder ganz munter. Wie steht es denn mit der Wohnung? Ich wünschte sehr, daß Ihr bald eine fändet! Daß Du bereits ein Mädchen gefunden hast, freut mich sehr, hoffentlich schlägt sie gut ein.

– Morgen über 14 Tage beginnen die Vorlesungen. Karlchen kommt wohl einige Tage vorher. Sein Quartier ist bereit.

Von Agnes herzliche Grüße. –

Soll ich Dir auch vielleicht mal was von meinen vielen Bilderchen etc zum Ansehen schicken, liebste Mutter? Ich möchte Dir so gern Deine Einsamkeit etwas erheitern! Mit den herzlichsten Grüßen Dein treuer Ernst

a eingef.: sehr; b korr. aus: beruht; c eingef.: vielleicht;

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Datierung
15.10.1871
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38621
ID
38621