Haeckel, Ernst

Jena 30 Juni 71

Liebste Mutter!

Zu deinem Geburtstage Morgen sende ich Dir die herzlichsten Grüße und Glückwünsche. Möge das neue Lebensjahr Dir viel frohe und heitere Stunden bringen, und die mancherlei Sorge, die in den Verhältnissen liegt, leicht ertragen lassen.

Ich brächte Dir morgen gern selbst mündlich meine Glückwünsche oder schickte sie durch meinen Jungen, der Dir in seinem jetzigen, wirklich sehr niedlichen Entwickelungs- Stadium gewiß rechte Freude bereiten würde. Da aber beides nicht sein kann und ich Dir doch gerne eine kleine Freude bereiten möchte, schicke ich Dir ||

beifolgend einen Vortrag von Hochstetter über die Insel Madeira, den ich mit großem Interesse gelesen und mich dabei der wunderschönen Stunden erinnert habe, die ich auf dieser herrlichen Insel verlebte. Es war eigentlich einer der besten Abschnitte meiner canarischen Reise.

Zugleich lege ich eine mir vor einigen Tagen zugekommene ungarische Übersetzung meinera Vorträge über den Stammbaum des Menschen bei. Du wirst wahrscheinlich von der magyarischen Sprache ebenso viel verstehen, als || ich selbst, d.h. Nichts! Doch ja, ich kenne ein Wort: Ember = Mensch! So wandert denn meine Weisheit jetzt selbst zu der mongolischen Rasse, zu der die Magyaren und ihren nächsten Stammverwandten, die Finnen, gehören.

Bei uns geht es leidlich. Vor einigen Tagen, als wir nur 8° Wärme hatten und wieder Heizen mußten (an einem der längsten Tage, 24 Juni!) hatte die ganze Familie etwas Catarrh. Jetzt ist es aber wieder besser. Die arme Agnes ist noch recht schwach. Ich hoffe sehr, daß ihr das Bad Nauheim recht gut thun wird. ||

Nauheim liegt in der Nähe von Giessen, nach Frankfurt a/M zu. Agnes wird mit Clara zusammen in etwa acht Tagen hingehen.

Daß Carl jetzt freie Fahrt nach Berlin hat, freut mich sehr. Er wird es gehörig benutzen!

Bei uns ist seit fünf Tagen in Folge der wolkenbruchartigen Regengüsse unerhörte Überschwemmung, bei der auch mehrere Menschen umgekommen sind. Das ganze Paradies, alle Wiesen und Felder und Chausséen im Thale stehen unter Wasser. Heute scheint es endlich besser zu werden.

An Vater und die Potsdamer die herzlichsten Grüsse.

Wie immer Dein treuer

Ernst

Die Photographie von Walter ist für Carl.

b Mein Freund Schultze hat sich gestern plötzlich (im 44. Jahre!) verlobt (mit einer Freiin von und zu Egloffstein (22 Jahre alt).

a korr. aus: meines; b weiter am Rand von S. 4.

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Datierung
30.06.1871
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38615
ID
38615