Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Neapel, 25. Juni 1859

Neapel 25. 6. 59.

Gewiß wirst Du mir recht bös sein, liebster Schatz, daß Du erst heut wieder Nachricht erhältst. Es war aber rein unmöglich Dir früher wieder einen Brief zukommen zu lassen, da die auf 2 – 3 Tage a berechnete Ischia Expedition sich zu vollen 8 Tagen ausgedehnt hat und es unmöglich war, Dir von dort zu schreiben. Höre selbst, wie es mir ergangen ist und Du wirst mich gewiß entschuldigen. Den letzten, am Samstag vor Pfingsten hier abgeschickten Brief (vom 11. 6.) werdet ihr inzwischen richtig erhalten haben. Das Pfingstfest, das meine hiesigen Bekannten bei dem schönsten Wetter zu Excursionen benutzten, mußte ich leider in der Stube zubringen, da Acton mir zwei Polypen gebracht hatte, von denen ich vermuthe, daß sie neu sind, und die ich also gleich möglichst genau beschrieben und abgebildet habe. Damit vergingen die 3 Pfingstfeiertage. Am 15ten und 16ten packte ich sämmtliche Siebensachen und Instrumente zusammen, um sie nach Capri zu schaffen und die Santa Lucia zu verlassen. Es war aber so viel dabei zu thun, daß ich nur mit genauer Noth fertig wurde und sie in die Preußische Apotheke schaffen konnte, wo sie noch beim Dr. Binz stehen. Ich wollte Dir vor meiner Abreise nach Ischia noch einmal schreiben, kam aber so nicht mehr dazu, da die Marktbarke, mit der ich mit meinem Reisegefährten Allmers die Ischia-Excursion antreten wollte, schon am 16. 6. Abends abfuhr. Von dieser über alle Erwartung und Beschreibung gelungenen prächtigen 8tägigen Expedition nach Ischia möchte ich Dir so gern ein recht warmes, lebendiges Bild entwerfen, wie ich es in Gedanken schon ganz für Dich ausgearbeitet hatte. Aber die Nachricht von der Mobilmachung, die mich gestern Abend hier bei meiner Rückkunft empfing und wie ein Kaltwassersturz all das helle Feuer glücklichster Naturbegeisterung, das mich ganz durchglühte, auslöschte, hat mir augenblicklich allen Muth dazu genommen und Du mußt daher noch auf eine glücklichere Stunde warten und Dich || vorläufig mit einer kurzen Skizze des Umrisses begnügen.

Die Nachtfahrt durch den Golf von Neapel und Bajä beim klarsten Vollmondschein war über alle Beschreibung prächtig und ließ uns fast gar nicht schlafen. Da der Wind sehr wiedrig war, mußten wir volle 12 Stunden kreuzen und legten erst Morgens früh 9 Uhr in Ischia an, wo wir in der reizend gelegenen, trefflichen Pension Patalano die beste Aufnahme fanden. Den ersten Tag benutzten wir zur Besichtigung der nächsten Punkte der Nordostküste, des reizendsten Theils der Insel. Am 2ten Tag (18. 6.) bestiegen wir den höchsten Punkt der Insel, den prachtvollen Ipomeo, mit der schönsten Aussicht, 1800' hoch. Am Sonntag 19. Besuch der wundervoll malerischen Nordküste, der Stadt Forio, die durch Bau, Umgebung und Vegetation ganz nach Afrika versetzt, und des Monte Imperatore an der Westküste. Am 20. 6. wieder Ostküste bei Lacco und Casamicciola. Am 21. besuchten wir die wundervollen wilden Felsschluchten Sinigaglia und Val di Tresta mit wahrhaft magischer Vegetation und heißen Quellen, gingen dann über den Monte Tabor, ebenfalls mit heißen Quellen, nach der Stadt Ischia an der Südostspitze. Von hier am 22. über das alte Lavafeld, den Lacco, von der letzten Ipomeo-Excursion [!] im Jahre 1301 herrührend, nach der Südküste, die wir ganz durchwanderten, bis zu dem südlichsten Punkt Sant Angelo. Am 23. fuhren wir mit Barke beim köstlichsten Wetter nach Procida herüber, von da nach Cap Misen, von wo wir am Abend nach Bajae wanderten und hier übernachteten. Am 24. (Johanni) gingen wir nach Cumae und dessen Umgebungen und fuhren den Abend mit Barke nach Puzzuoli, von da mit Curriculo hierher. Die ganze Excursion war vom schönsten Wetter begünstigt und gehört zum reizendsten, was ich je erlebt habe. Das Hauptverdienst hat aber dabei mein liebenswürdiger Reisegefährte, in dem ich durch diese gemeinsame Tour mir den || besten, liebsten Freund gewonnen habe. Dieser liebe treffliche Naturmensch heißt Herrmann Allmers und ist Gutsbesitzer in dem Dorfe Rechtenfleeth in Ostfriesland, nahe dem Weserausfluß. Noch nie hat mich der glückliche Zufall auf einer Reise mit einem Menschen zusammengeführt, der mich so ergänzte und so mit mir harmonisirte. Es fehlt mir heute Zeit und Ruhe, um Dir eine genügende Schilderung dieses köstlichen edeln Prachtmenschen zu geben, daher nur folgende Andeutungen: er botanisirt, dichtet reizend, skizzirt und malt sehr schön und leicht, hat das tiefste Interesse für Natur und Naturwissenschaft und erfaßt alle Seiten derselben mit einer Tiefe und Innigkeit, die bei einem Dilettanten sehr selten ist. Dabei ist er sehr bewandert in Kultur- und Kunstgeschichte und ich habe in dieser Beziehung, sowie in seiner höchst liebenswürdigen humanen Art, das Menschenleben aufzufassen, sehr viel von ihm gelernt, so wie er andrerseits in dem mehr wissenschaftlichen Theil der Naturbetrachtung manches von mir gelernt hat. Er hat eine Menge reizender Gedichte gemacht, von denen er mir viele mitgetheilt hat, − auch Naturschilderungen aus Nordwestdeutschland „Land- und Volksbilder aus den Marschen der Weser und Elbe, Gotha. Scheube 1859b“ – geschrieben hat, die Dir gewiß sehr gefallen werden. Ich kann Dir nicht sagen, welchen wohlthätigsten Einfluß diese köstlich tiefpoetische und norddeutsch innige Menschennatur auf mich ausgeübt hat. Sie hat Saiten in mir angeschlagen, Gefühle und Bestrebungen erweckt, die ich schon ganz erstorben glaubte und mich in gewissem Sinne mir selbst wiedergegeben. Schon nach den ersten Tagen unserer Bekanntschaft waren wir so innig vertraut, daß wir auf dem ewig kochenden vulcanischen || Boden des Monte Tabor den deutschen Bruderkuß tauschten und das trauliche Du an die Stelle des ceremoniellen Sie treten ließen. Selten hat gewiß Mutter Natur zwei ihrer treuesten, begeistertsten Jünger c zusammengeführt, die so für einander passen. Alles was mir an Gutem und Edlem fehlt, besitzt dieser herrliche Freund und ich habe wiederum andere Charakterseiten ausgeprägt, die den seinen ergänzen. Von unserem köstlichen Zusammenleben auf Ischiac werde ich Dir mündlich erzählen. Den ganzen Tag saßen und wanderten wir draußen, in der herrlichen Natur, in einer wahrhaft tropischen Vegetation, die meine Pflanzenpresse bis zur Dicke eines Fußes gefüllt hat, und botanisirten und zeichneten und aquarellirten. Indem wir gegenseitig unsere beiden Reisepläne modificirten, hatten wir bald einen köstlichen gemeinsamen großen Plan für die nächsten Monate gemacht, in dem der Gedanke, Alles gemeinsam zu machen, die Hauptfreude war. Wir wollen 1 Monat zusammen in Sicilien reisen und dann von da einen vierwöchentlichen Abstecher nach Algier und in den Atlas machen. Alle diese schönen Luftschlösser sind nun durch die plötzliche Mobilmachung zerstört und werden wohl nie realisirt werden. Am meisten thut es mir leid, daß ich mit diesem trefflichsten Menschen nicht länger beisammen bleiben kann. e So befinde ich michf jetzt in einem Zwiespalt der widersprechendsten Gefühle. Denn wie sehr mich diese Zerstörung aller meiner, für die ganze folgende Lebenszeit so wichtigen Pläne schmerzt, so kannst Du doch denken, liebster Schatz wie andrerseits meine Seele jauchzt und mein Herz klopft bei dem Gedanken, Dich liebstes Wesen bald wieder in meine Arme zu schließen und Dir mein Herz aus zuschütten, das so voll von der schönen Reise heimkehrt. Doch ich muß schließen, liebste Änni. Das Dampfschiff geht in 1 Stunde ab. Also nur noch 1000, 1000 Grüße und Küsse von Deinem treuen Erni.g

a gestr.: aus; b korr. aus: 1858; c gestr.: so; d gestr.: Capri; eingef.: Ischia; e gestr.: Wir; f eingef.: mich; g Text weiter am rechten Rand von S. 4: treuen Erni.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
25.06.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38514
ID
38514