Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Jena, 4. Juli 1862

Jena 4.7.62.

6 Wochen noch liebster, einziger Schatz! und das heißersehnte Ziel ist erreicht! Wir haben den Gipfelpunkt des Lebens erreicht, schließen das Bisherige ab, und beginnen im innigsten Zusammenleben, das zwischen zwei Menschen denkbar ist, ein neues, schöneres und besseres Dasein, in welchem alle Mängel und Schattenseiten der bisherigen Solo-Existenz unter der unvertilgbarena Gluth der innigsten Gattenliebe verschwinden und verdorren sollen! In 44 Tagen bist Du Frau Professorin, liebstes Herz! Wie das im Herzen wiederklingt! Ich bin schon bald gar keiner anderen Vorstellung mehr recht fähig, so sehr erfüllt diese eine glückselige Idee mein ganzes Geistesleben. Ich bin zerstreuter und für die übrige Welt unbrauchbarer, als je, und meine Bekannten behaupten, daß ich eigentlich nur noch in einer eingebildeten Traum-Welt existire und als Schatten unter ihnen wandle! || Ich vermuthe, daß es meinem ungeduldigen heißblütigen Liebchen nicht viel besser gehen wird, als mir, und daß ihr die 44 Tage, welche uns noch von der innigsten, glückseligsten Vereinigung trennen, eine Ewigkeit erscheinen werden im Vergleiche zu gewöhnlichen 6 Wochen! Aber die Vorfreude ist auch recht reizend, und ich wünsche Dir nur eben so viel glückselige Traumbilder wie sie mich jetzt Tag und Nacht umgaukeln. Mit meiner Änni schlaf ich ein, mit meiner Änni wach ich auf, und meine Änni ist es wieder, die mich keine Stunde Tag und Nacht verläßt! Liebchen, wenn das Leben wirklich lebenswerth ist, wenn irgend Etwas als gut, als beneidenswerth reizend in diesem Leben dastehen kann, so ist es doch sicher allein dieses glückselige Gefühl des ganzen und alleinigen Besitzes der liebsten und besten Menschenseele, die man gegen sein eigenes unnützes und unwerthes Selbst eintauscht! ||

Rückerts Liebesfrühling tönt mir jetzt Tag und Nacht durch den Sinn, und jetzt erst würdige ich recht die tiefe Wahrheit dieses innigsten und schönsten Liebeswortes:

„Unter den aus Himmelschein

In des Lebens Nacht gesunknen

Sind die Glücklichen allein

Die von ewger Liebe Trunknen!“

„Ein Obdach gegen Sturm und Regen

Der Winterzeit

Sucht ich, und fand den Himmelsseegen

Der Ewigkeit

O Wort wie du bewährt Dich hast:

Wer wenig sucht, der findet Viel.

Ich suchte eine Wanderrast

Und fand mein Reise-Ziel.“

Ein gastlich Thor nur wünscht’ ich offen,

Mich zu empfahn,

Ein liebend Herz, war wider Hoffen

Mit aufgethan!

O Wort, wie Du bewährt dich hast:

Wer wenig sucht, der findet Viel!

Ich wollte sein ihr Wintergast

Und ward ihr Herzgespiel! ||

Die letzten beiden Strophen sind doch ganz speciell für mich gedichtet, nicht wahr, liebster Schatz? Könnte man schöner, reizender, treffender die ganze Geschichte unseres Liebelebens zusammenfassen, als in diesen beiden Strophen? Wenn ich [an] die ganz glückselige Winter-Zeit während des Staats-Examens zurückdenke, wo ich Dich kennen und lieben lernte, so könnte ich die reizend unbewußte und darum so innige und tiefe Zuneigung, mit der Du Dich in mein Herz hineinstahlst, nicht wahrer und treffender ausdrücken, als in diesen beiden Versen!

Als Schwester lernte ich Dich lieben und ich war wahrhaft erschrocken, als dann aus der platonischen Geschwisterliebe der neckische Amor hervorsprang, da uns am Abend des III Mai unauflösbarb an einander kettete, und uns den Beginn eines neunen, besseren Lebens verkündete, von dessen beglückendem Reichthum ich freilich damals noch keine Ahnung hatte! Lieblicher, reizender kann wohl nie ein Bund zweier Herzen geschlossen werden! ||

Über all den reizenden Bildern, mit denen mich schon jetzt die Nähe des glückseligsten Lebens-Momentes beständig umgaukelt, vergesse ich fast an die prosaischen Pflichten zu denken, die die Lebens-Sitte von dem jungen Ehe-Candiaten fordert. An den albernen Schnick-Schnack mit Aufgebot u.s.w. habe ich übrigens bereits gedacht, und bereits an Richter einen c recht strickigen Brief geschrieben. Durch Vater läßt er heute antworten, daß er sich sehr darauf freue, uns zu trauen. Er muß aber vor dem 27 Juli, an dem wir zum ersten Male aufgeboten werden, unsere beiden Taufscheine haben!

Das Aufgebot geschieht in der Polter-Kneipe ‒ entschuldige, wollte sagen: Matthäi-Kirche (welche Ironie des Schicksals!!) ‒ Und Du mußt mit Richter zu Büchsel gehen!! Ferner müssen wir (Hocus! Pocus!) die beiderseitige, schriftliche Einwilligung unserer beiden verehrten Herren Eltern haben! ||

Über die wunderbare Idee der beiden Alten, daß wir die beiden ersten Tage resp. die erste Woche nach der Hochzeit bei ihnen bleiben sollen, habe ich natürlich nicht weniger Schreck bekommen, als Du, und bilde mit Dir zusammen natürlich die entschiedenste Opposition gegen diese Zumuthung! Ich habe den Alten übrigens kein Wort darauf erwidert und halte es für das Klügste, schriftlich kein Wort des Widerspruchs laut werden zu lassen, um so energischer aber mündlich! Was das für uns Beided einerseits und für die andere Menschheit, insonders die liebe Verwandtschaft andrerseits, für ein Plaisir sein soll, mit einem so grundlos verliebten Ehepaar die erste Zeit nach der Hochzeit zusammen zu sein, sehe ich wahrlich nicht ein; ich glaube, ich würde Dich, wenn wir dazu gezwungen würden, entführen! Die Alten werden übrigens ohne Zweifel unseren Vorstellungen wenn sie mündlich applicirt werden, nachgeben. Verliere aber jetzt kein Wort darüber! ||

Betreffs der Wohnung scheint es nun so gut, wie gewiß, daß wir in der Ziegelei bleiben, da alle Wohnungen, welche zu Johanni noch frei geworden sind, und welche ich besichtigt habe, bei weitem in jeder Hinsicht hinter derselben zurückstehen. Im Grunde meines Herzens, muß ich Dir gestehen, jubele ich darüber, und kann mich nicht genug freuen, daß diese Lieblings-Idee realisirt wird. Ich bin überzeugt, daß Du gleich bei der Ankunft sofort meine Ansicht theilen und überzeugt sein wirst, es könne kein reizenderes Wald-Vogel-Nestchen für ein so naturwüchsiges Ehepaar gefunden werden. Und warm will ich Dich schon halten, dafür stehe ich Dir!! Nur in einem Punkte differiren wir! Ich halte die Treppe, die den Herrn Professor von der e Frau Professorin während seiner Arbeit trennt, für höchst nützlich, da ich überzeugt bin, daß ich, wenn ich im Zimmer neben Dir arbeiten sollte, ich mich beständig abriegeln und abschließen müßte! ||

Du glaubst nämlich gar nicht, was für ein arges Strick meine kleine Professorin ist, und wie sie mich fortwährend necken und von der strammen Arbeit abziehen wird! Dagegen müssen also f nothwendig sogleich dringende Vorsichtsmaßregeln getroffen werden!

‒ Schreib mir doch im nächsten Brief, ob es Dir recht ist, wenn ich folgende Aufforderung in das Jenenser Wochenblatt setzen lasse: „Ein ordentliches Dienstmädchen [das mit guten Zeugnissen versehen ist][und etwas von der Küche versteht] wird zu Michaelis gesucht. Wo? sagt die Expedition.“ ‒ Oder soll der erste oder zweite Klammersatz weg bleiben? Lohn werde ich, inclusive sämmtlicher Geschenke, wohl 20₰ geben müssen. Hier giebt man meist 12₰ Lohn und 4‒8₰ Geschenke (zu Jahrmarkt und Weihnachten). Louis und Gonne werde ich dieser Tage einladen; ich glaube aber kaum, daß sie kommen werden. Grüße Mutter und Agnes Stubenrauch bestens und sei so herzensvergnügt, wie Dein Erni sich über das fortdauernd schlechte, kalte Regenwetter freut!

Laß Dich innigst küssen von Deinem

lieben Erni.

a korr. aus: unversiegbaren; b korr. aus: unauslösbar; c gestr.: St; d eingef.: Beide; e gestr.: Pro; f gestr.: folgende

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
04.07.1862
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38418
ID
38418