Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Berlin, 8. Oktober 1858

Berlin Freitag 8.10.58.

So eben nach dem Frühstück erhalte ich Deinen lieben Brief, mein liebster, bester Schatz, und beeile mich, Dir augenblicklich zu antworten, um das viele Traurige und Böse, was Dir mein vorletzter Brief gebracht hat, womöglich wieder gut zu machen. Hoffentlich wirst Du inzwischen meinen letzten Brief erhalten und daraus vielleicht schon etwas fröhlichere Gedanken geschöpft haben. Ach, liebste, einzige Anna, vergiß jene dummen, unnützen Trauertage; streiche sie aus meinem Leben und zerreiß den trostlosen verzweifelnden Brief. Ich hab mir in diesen Tagen schon Vorwürfe genug gemacht, ihn Dir geschrieben und abgeschickt zu haben. Und doch konnte ich nicht anders! Wie hätte ich das ertragen sollen, wenn ich a nicht den Gram und Kummer in Deine liebevolle, Alles mit mir theilende Seele hätte ergießen und mir aus Deinem treuen, starken Herzen Muth und Kraft zum Ertragen hätte schöpfen dürfen? Liebe, gute Anna, Du willst ja Alles, was dies arme, unvollkommene menschliche Erdenleben uns bringt, mit mir auf Dich nehmen, mit mir ertragen und durchkämpfen. O ertrag auch dies. Bitte, habe Geduld mit mir. Es sind das gewiß nur die letzten verzweifelten Anstrengungen des egoistischen Mephisto, den Platz zu behaupten, den Du ihm entrissen hast. Könnte ich Dir jetzt nur mein Inneres zeigen, so wie es ist, wie es schon ganz anders geworden ist. Ich glaube Du würdest Dich freuen, mein liebes, ganzes Herz, wie Du schon in dieser Rumpelkammer des materialistischen Naturforscher-Egoismus aufgeräumt hast. ||

Könnte ich Dir nur recht sagen, wie Du, Du ganz allein, mein Eins und Alles bist, wie Du meine Gedanken, Gefühle, Bestrebungen Dir jetzt ganz allein angeeignet hast und wie mit Deiner Alleinherrschaft Friede und Ruhe in das wilde bewegte Gemüth eingezogen ist. In den letzten 8 Tagen warst Du mir beständig immer so nahe, immerfort fühlte ich so den herrlichen Einfluß Deines reinen, liebevollen Herzens auf mein unruhvolles, zweifelndes Streben, daß ich ganz glücklich darin wurde und gar nicht mehr dachte an die Sorgen und Vorwürfe, b mit denen die Menschen, und grade die, die mir die nächsten und liebsten Freunde sind, mir unser schönes Verhältniß trüben und verdüstern wollen, weil sie selbst keine Ahnung haben von dem glückseligen Gefühl, das zwei Menschen Herzen ergreift, die so ganz ineinander aufgehen und in seligem Selbstvergessen, nur Eins im Andern lebend und fühlend, das höchste Glück finden. Sieh, meine Änni, ich bin ja jetzt so ganz Dein, und nie soll wieder irgend ein egoistischer Gedanke mich Dir entreißen wollen. Vor Dir tritt ja Alles Andere zurück; selbst meine hohe, hehre Wissenschaft, für die ich bisher alles zu opfern bereit war, sie ist nicht mehr die Göttin, die alle meine Gedanken und Bestrebungen beherrscht. Sieh, das bist Du allein. Und wenn ich jetzt im Genusse meiner wissenschaftlichen Thätigkeit wieder glücklich bin, wie ich es in den letzten 8 Tagen wirklich war, so ist es nur in stetem Hinblick auf Dich, in beständigem Mitgenusse mit Dir, in dem freudevollen Bewußtsein, für Dich, meine ideale, Alles in sich fassende Göttin, zu arbeiten und in dieser Arbeit das Köstlichste zu genießen. ||

Die letztverflossenen 8 Tage haben mich in dieser Beziehung wirklich sehr glücklich gemacht. Sie haben mir gezeigt, daß ich noch mit alter Kraft und Energie mich ganz in den Bereich der höchsten Ideen versenken kann, daß die Fähigkeit und Freude zu meiner Naturforscher-Thätigkeit, die ich durch den verflossenen Sommer durch die ausschließliche Beschäftigung des Gemüths, verloren glaubte, nicht verschwunden ist. In der genauen Durcharbeitung, in dem tiefen Versinken in die herrlichen genialen Ideen Johannes Müllers, in dem Erfassen und Bewältigen seiner ebenso durch Masse desc empirischen Materials, als philosophischer Beherrschung und Durchbildung desselben, ausgezeichneten Vorträge, habe ich zu meiner innigsten Freude mich überzeugen können, daß ich die Begabung, die Lust und Kraft dazu, trotz der so lange zwischen liegenden Zeit, trotz der jetzt ausschließlichen Herrschaft der Liebe über das Gemüth, nicht verloren habe, d wie ich so sehr befürchtet habe. Ja gewiß mein liebster Schatz, Liebe und Wissenschaft schließen sich nicht aus. Was letztere für den Verstand, ist erstere für das Gemüth. Ja sie erheben und verherrlichen sich gegenseitig. Ich habe lange nicht so angestrengt und continuirlich gearbeitet, wie in den letzten Wochen und doch warst Du, meine theure Seele, mein anderes Ich, beständig bei mir. Und doch hast Du mich kaum gestört; nein, mit angetrieben und ermuthigt, immer kraftvoller und frischer in die That mich zu versenken, der Arbeit mich hinzugeben. Ach, liebstes Schatzchen, wie glücklich, still und zufrieden wurde mein unruhiger Sinn in dieser Überzeugung; was habe ich da für Hoffnungen, was für Willen und Kraft für die Zukunft geschöpft! || So hoffe ich denn auch meine Freunde durch die That von der einseitigen Übertreibung ihrer entgegenstehenden Ansichten überzeugen zu können. Das Verhältniß zu diesen zu ordnen, wird noch eine schwierige Aufgabe der nächsten Zukunft sein, da sie mich wirklich fast Alle mehr oder weniger verloren geben. Vorläufig habe ich mir damit geholfen, daß ich mich gänzlich abgeschlossen habe. Mögen sie nun darüber denken, was sie wollen. Ich habe diese Woche in meiner Studirstube so still und einsam gesessen, als hätte ich keine bekannte Seele in der ganzen großen Stadt. Dafür stand mir aber mein guter Engel beständig zur Seite und hat mir Ruhe und Klarheit, Friede und Freude in das zu unseliger Verzweiflung aufgeregte Herz gesenkt. Liebste Änni, Du machst mich so gut, so glücklich; bitte halte nur fest in Deiner treuen nicht wankenden Liebe; zuletzt wird sie gewiß auch die letzten Spuren des Egoismus für immer ausrotten. Sieh ich bin noch so unreif, so in der Entwicklung und Ausbildung begriffen, e habe so lange und andauernd mich in eine einseitige Auffassung der Welt und Menschen hinein gearbeitet, daß es nun nicht mit einem Male geht, auch der andern Richtung gerecht zu werden und daß es wohl noch manche Kämpfe kosten wird, ehe ich auch in dieser zum Lichte der Wahrheit durchdringe. Aber führe Du mich nur mit Deinem richtigen, weiblichen Naturgefühl, sieh, Du kannst Alles aus mir machen; gegen Dich tritt mir ja Alles Andere, Welt und Menschen so zurück, daß ich Dir ganz allein lebe, daß ich alle Verkennung, alle üble Nachrede, alle böse Verläumdung jener, selbst die so schmerzliche falsche Auffassung meiner Freunde, jetzt für gar Nichts mehr achte. ||

II.

Daß ich Dir durch meinen vorletzten Brief so weh gethan, hat mich um so mehr geschmerzt, als sich aus Deinem heutigen zu meiner größten Betrübniß ersehe, daß Dir Dein schlimmes Auge f durch Schmerzen und Langeweile so viele Qualen bereitet hat. Ich habe wirklich einen rechten Schreck gekriegt, liebstes Schatzchen und es ist mir sehr weh, daß ich nicht bei Dir sein, Dich unterhalten, trösten, Dir vorlesen und vorplaudern, vielleicht auch etwas zur Heilung thun kann. Bitte, bitte liebstes Herz, sei recht vorsichtig und sorgfältig mit dem Auge; es ist ja das Beste, Erste, was wir an dem ganzen Cadaver haben. „Des Leibes Licht!“ – Ich könnte nicht ohne Augen leben – So eben war Quinke hier und meint, daß, wenn die Entzündung nicht besser würde, Du unverzüglich herkommen möchtest. Es wäre nicht damit zu spaßen. Wenn die Entzündung noch nicht nachgelassen hätte, möchtest Du 2–4 Blutegel an die Schläfengegend setzen, dicht nach außen und oben vom äußern Augenwinkel. Ferner solltest Du möglichst wenig essen, namentlich kein Fleisch, Nichts Erhitzendes (keinen Wein), dagegen mehr mehlige Sachen, Wassersuppe, Obst etc. Außerdem solltest Du tüchtig abführen ½–1 Eßlöffel Glaubersalz (oder halb so viel Bittersalz) auf einmal, öfter wiederholt (2–3 mal des Tags) bis es ordentlich wirkt. Wenn Du reisest, mußt Du das Auge durch eine vorgebundene Compresse, die aber nicht aufliegt, ordentlich schützen. Sonst darfst Du aber ja nichts auf das Auge selbst thun, namentlich keine so scharf reizende Sachen, wie scharf reizende, gebratene Zwiebeln. Es ist das ein unbegreiflicher Unsinn, der im Cursus jedenfalls mit Durchfallen bestraft werden würde. Höchstens kannst Du laues Wasser darüber träufeln lassen. ||

Ich kann dem nur die herzliche Bitte hinzufügen, doch ja nur recht bald zu kommen. Hier ist ja Dein bester Doctor, der Dich gewiß gleich wieder gesund machen wird. Ach, mein herziges Schatzchen, Du glaubst nicht, wie ich mich nach Dir sehne. Du bist ja mein Alles, und da lebe ich so wirklich nur halb hin. Wenn ich nur erst wieder an meinem Herzen ruhen und alle Gedanken ihm aussprechen kann, dann ist Alles wieder gut. Übrigens wünsche ich auch im eigenen Interesse Deiner Mutter, daß ihr bald kämt, denn Tante Bertha ist immer noch außer sich darüber, daß Deine Mutter h alle Last, Unruhe, Trouble, Arbeit, der mit Jacobis Ankunft und Aufenthalt in No 4 verknüpft ist, von sich abwälzt und ihr auf den Hals schiebt. Als ich vorgestern da war, wußte sie noch gar nicht, was sie Alles zuerst dafür thun sollte. Die Betten für die 8 Leute (nicht weniger als 4 Domestiken!!! Da werden wir’s mit einem Hausmädchen „Vor Allens“ einfacher haben!) hatte sie mit ihrem feinen Bettzeug überziehen lassen. Zum Essen, Trinken etc hatte sie nicht weniger, als Alles, hinüber schaffen lassen, weil gar Nichts, nicht Gabel, Messer, Glas geschweige denn Brod etc vorhanden sei. Kurz, das wird noch eine Heidenwirthschaft geben und eine reiche Quelle von „Mißverständnissen“ etc sein. Dazu ist Tante Bertha noch gereizt gegen Helene, durch eine Äußerung, die diese über uns beide gethan, und die der Art ist, daß ich lieber gar Nichts mit ihr zu schaffen haben möchte. Wenigstens wird uns darin eine so niedrige Gesinnung zugemuthet, daß sie mich wirklich empört hat. – ||

Gestern, mein liebster Herzensschatz, wurde ich auch einmal durch einen sehr lieben netten Brief, von Finsterbusch, erfreut, den ich Dir mitschicke; heb ihn mir aber wohl auf; es ist derselbe, alte Schulfreund, der uns vor unserer Verlobung, Mitte April, hier zusammen sah, und mich geradezu fragte: „Ernst, sag mir aufrichtig, das ist doch Deine Braut? Sie gefällt mir sehr und ihr paßt gewiß ganz vortrefflich zueinander!“ Ich lachte freilich damals darüber, ohne Ahnung, daß das so bald wonnige Wahrheit werden dürfte. Daß ich Dich sehr lieb hatte, war mir freilich schon vor Weihnachten klar geworden; aber ich hatte immer nur an Dich als Schwester gedacht, da Du mir ohnehin schon so nahe standest. Daß Du, die reife, vollendete ausgebildete Jungfrau, Dein Herz an einen noch so in düsterm Zweifel und unsicherer Unklarheit umhertappenden Jüngling, der die Knabenschuhe oft kaum ausgezogen zu haben schien, verschenken könntest, daran habe ich wahrlich vor dem seligen Moment, wo es mir mit einem Male ganz und voll klar wurde, nie gedacht. Ach, mein einziges Gut Du, könnte ich mich nur schon ganz Deiner würdig zeigen, könnte ich Dir durch Thaten beweisen, daß ich Deiner reinen, edlen Liebe nicht unwerth bin. Aber hab nur Geduld, bester Schatz. Ich fange jetzt ein neues Leben an, voll Kraft und Energie, Ernst und Frische, und vor allem Selbstvertrauen und Muth, die mir leider nur zu sehr bisher fehlten. Vielleicht waren die Kämpfe der jüngsten Zeit nothwendig, um sie in mir zu wecken. ||

Ich muß schließen, liebster Schatz, wenn ich meinen Plan ausführen will. Ich will nämlich diesen Brief selbst auf den Stettiner Bahnhof tragen und in den Postwagen werfen, damit Du ihn sicher morgen erhältst. Sei mir tausendmal geküßt und gegrüßt mein herziges, süßes Liebchen. Und bitte, bitte, komm recht bald. Nimm Dein liebes Auge ja recht in Acht und befolge die gegebenen Rathschläge. Hier ist Alles munter. Die Eltern grüßen bestens und wünschen Dir von Herzen gute Besserung. Die kleine Don Jouan Ouverture auf kleinem Bogen à quatre main, gehört mir, bringe sie also mit. Jacobis kommen heut Abend hier an und werden wohl mit rechtem Troubel in eure leere Wohnung einziehen. Heinrich hat sich in den letzten Tagen nicht sehen lassen.

Grüß Mutter bestens und rede ihr zu, bald zu kommen. Nochmals herzlichen Gruß und Kuß von Deinem

treuen Schatz.

a gestr.: es; b gestr.: dem; c eingef.: Masse des; d gestr.: daß; e gestr.: daß; f gestr.: so; g gestr.: und mit; eingef.: dagegen; h gestr.: ihr

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
08.10.1858
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38357
ID
38357