Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Berlin, 5./6. Oktober 1858

Berlin 5.10.58.

Gewiß hatte ich auf meinen letzten Brief, in dem ich Dich durch meine düstern Klagen vielleicht recht betrübt habe, nicht einen so lieben, lieben Brief verdient, wie der, den Du mir heute durch Onkel Gustav überschickt hast. Hab tausend, tausend Dank dafür, mein lieber, herziger Schatz. Ich mußte ihn lesen und immer wieder lesen, so daß das Müllersche Heft über solche Vernachlässigung ganz eifersüchtig wurde und konnte mich doch nicht genug erfreuen an Deinem tiefen, liebevollen Gemüth, das aus jeder Zeile mir so beglückend entgegentrat. Nun sollst Du aber auch gleich heut noch Antwort haben, und ich habe es mir als besondere Freude von den Eltern ausgebeten, heut Abend, wo die ganze Familie zur festlichen Feier von Mollards silberner Hochzeit versammelt ist, bei meiner Änni zu Haus bleiben zu dürfen. So werde ich denn auch wohl diesmal dem Vorwurf entgehen, nicht rasch genug geantwortet zu haben. Daß Du übrigens den Brief nicht doch noch Sonntag bekommen hast, wundert mich, da ich ihn Sonnabend schon ganz früh aufgegeben hatte. Nun Du hast nichts verloren, wenn Du das traurige Zeug etwas später bekommen hast. Um so besser! Es hat mir gestern und heut schon leid genug gethan ihn so abgeschickt zu haben, wie ihn mir der trostlose Kleinmuth und die zweifelvolle Verzagtheit dictirten, als ich kaum erst aus den bösen Tagen verzweifelnder Melancholie mich wieder etwas empor geschüttelt hatte. Sei mir nicht bös drum, meine herzige Änni! Vergiß es und denke, daß es die letzte verzweifelte Anstrengung des alten Menschen war, seinen egoistischen Platz zu behaupten, und daß jetzt der liebe, neue ganz und gar eingezogen ist, mit der Hoffnung und Selbstständigkeit, die ihm Deine Zuversicht und Deine Liebe gegeben haben und noch täglich mehr und mehr geben. Und dennoch konnte ich nicht anders und mußte Dir, der ich ja Nichts, auch nicht die geheimsten Falte des Herzens, verbergen kann, das schwerbedrängte Gemüth ausschütten, um mir aus meinem Lebensquell neuen Muth und neue Hoffnung zu schöpfen. Und das hat denn auch die gehoffte Wirkung nicht verfehlt. ||

Ich habe den October bis jetzt eben so brav durchgeführt, als ich ihn angefangen hatte und bin wirklich die 5 Tage in beständiger Arbeit recht vergnügt gewesen. Freilich war da im Stillen auch noch ein anderer Grund des Vergnügens. Ich zählte schon im Geheimen die Tage, bis wann ein gewisser kleiner Herzensdieb mir wieder ein Stückchen von den langen Winterabenden stehlen würde, die jetzt schon recht ansehnliche Gemüthlichkeit zu erlangen anfangen. Da hatte ich nun schon auf nächsten Samstag als spätesten Termin gerechnet. Und nun kommt heute Onkel Gustav mit der Trauerbotschaft, daß ich mich noch auf 10 Tage gefaßt machen könne. Das ist denn doch ein bischen hart, von den 3 schönen Monaten, die uns noch gehören, fast einen halben abzuknapsen. Daß der Barometer da etwas fiel, kannst Du denken. Nun hoffentlich läßt sich Mutter noch erweichen, schon Jacobis wegen etwas früher zu kommen. Wie freue ich mich schon auf das köstliche Wiedersehen! Ach, Schatzchen, wir wachsen doch täglich immer inniger zusammen und die schweren Stunden tragen nur dazu bei, das in den frohen geknüpfte Band immer mehr zu befestigen. Mir ist es zuweilen ordentlich, als müßte ich durch das viele Bittre und Harte, was mir die mißgünstige Beurtheilung und die schiefe Auffassung unseres köstlichen Bundes von Seiten auch meiner liebsten Freunde bringt, mir das Glück, Dich besten Schatz zu besitzen, erst erkämpfen und verdienen. Und dieser Gedanke läßt mich jetzt leicht all das Gerede und Gedeute abschütteln! Wenn sie nur eine Ahnung davon hätten, wie wir uns lieben, was wir gegenseitig einander sind, sie würden gewiß schweigen, oder uns höchstens unser unaussprechliches Liebesglück beneiden. Wie köstlich ist das doch, wenn man so eine liebe, treue, reine Seele sich immer so ganz nahe weiß, daß man gleichsam in beständigem geistigen Verkehr miteinander ist. Das habe ich wieder in den letzten Tagen so recht innig beglückend empfunden, wo meine Änni mich auf allen Gedankenwanderungen begleitete, und durch ihre Theilnahme an meinen Genüssen und Anschauungen sie mir doppelt werth machte. ||

Mein Leben in den letzten 5 Tagen war wirklich recht glücklich, und zwar nur weil ich mit den beiden besten Lebensquellen aus denen ich, wenn ich ganz für mich allein bin, schöpfen kann, den Briefen meiner Herzens-Änni für das Gemüth, und den Vorlesungen meines unvergeßlichen Johannes Müllers für den Naturforscherverstand, den ganzen Tag recht ungestört allein war und in ihren unerschöpflichen Reichthum mich recht innig versetzen konnte. Was für einen köstlichen Schatz der erhabensten Ideen, der interessantesten Anschauungen ich in J. Müllers vergleichender Anatomie habe, kannst Du Dir kaum denken. Mein ganzes Streben geht jetzt dahin, mir aus dem Heft, das ich im Jahr 1854 darüber bei ihm nachgeschrieben habe, so wie aus den ergänzenden neueren zweier anderer Schüler desselben, eine möglichst vollständigea Sammlung aller darin niedergelegten allgemeinen Ansichten und der Thatsachen in seiner eigenthümlichen Auffassung zusammenzustellen und auszuarbeiten. Es ist eine schwierige und mühsame Aufgabe, aber gerade dadurch so interessant und anziehend und durch die Fülle genialer Ideen, inb die man dabei allmählich sich hineinarbeitet, so lohnend, daß diese Arbeit jetzt für mich der größte Genuß ist und ich mit wahrer Unersättlichkeit von früh 7 Uhr bis Abends 12 Uhr dahinter sitze. Wenns nur etwas rascher gehen wollte! Die Zusammenstellung ist doch zuweilen so verwickelt und die Form macht soviel Schwierigkeiten, daß ich mannichmal über einem Satz mehr als eine Stunde tifteln muß. Und da möchte der ungeduldige Geist wohl zuweilen etwas wild werden. Aber andererseits hat grade dieses tiefe Versenken in den Grund einer Idee, die möglichst weite Verfolgung aller ihrer Consequenzen etwas ungemein Reizendes, und ich speciell kann immer der Versuchung nicht widerstehen, die tiefste Tiefe womöglich bis auf den Grund auszukosten, wobei dann freilich nach stundenlangem Grübeln oft weiter nichts herauskömmt als daß der unruhige Faust sich vor die Stirn schlägt: „Da steh ich nun, ich armer Thor, und bin so klug, als wie zuvor! – Und sehe, daß wir Nichts wissen können!“ – ||

Sich so in die tiefen reichen Ideen eines so außerordentlichen und genialen Mannes hineinleben zu können, ist gewiß einer der größten Genüsse und ich kann der Mutter Natur wohl dankbar sein, daß sie mich mit dieser Fähigkeit und mit dem regen Streben nach dem höheren Allgemeinen ausgerüstet hat, das vielen meiner Freunde abgeht, die im Speciellen viel tüchtiger sind, als ich. Andererseits hat es freilich auch vieles Gefährliche, da man sich oft zu leicht verleiten läßt, über dem Ganzen das Einzelne zu übersehen und vom Allgemeinen zum Besonderen herabzusteigen, statt umgekehrt, wie es die allein richtige, empirische Methode erfordert. Indeß wird sich dieser Fehler immer leicht vermeiden lassen, wenn man nur mit der geduldigsten Ausdauer und liebevollsten Sorgfalt die Anschauung und Erforschung auch der scheinbar unbedeutendsten Naturkörper und Erscheinungen so intensiv betreibt und durchführt, wie sie es alle vermöge des Reichthums der wunderbarsten Verhältnisse verdienen, die wir auch im Kleinsten von ihnen finden. Grade diese Vertiefung in alle verschiedenen Wesenheiten eines Geschöpfes, wobei man sich ganz in den Schöpfungsgedanken desselben hineinlebt, den Plan verfolgt, der dem ganzen complicirten Wunderbau zu Grunde liegt, die höchste Weisheit und Zweckmäßigkeit, Feinheit und Schönheit in der Structur und Zusammenfügung aller einzelnen Theile und Organe erkennen lernt, grade diese möglichste Ergründung des Einzelnen ist im höchsten Grade anziehend. Und doch wird sie noch übertroffen von dem Genusse der allgemeinen Idee, die in hehrem Fluge über das Einzelne hinwegstreift, das Gemeinsame der verschiedenen Einzelwesen heraussucht, zusammenfaßt und vergleicht, und im Abstrahiren dieser zusammen passenden Erscheinungen zum Gesetz sich erhebt. Beide Richtungen sind in unserm unübertroffenen Johannes Müller zur höchsten Entwicklung gediehen. Er war ebenso der sorgfältigste Specialforscher, wie der erhabenste Philosoph. Aber wenn in späterer Zukunft sein Name bei vielen Einzelarbeiten nicht mehr genannt werden wird, wird er noch im unvergänglichen Lichte strahlen über der Idee des Ganzen der organischen Schöpfung, die Keiner so gewaltig wie er aufgefaßt hat. ||

II.

Da Johannes Müllers Untersuchungen mich jetzt den ganzen Tag ausschließlich beschäftigt haben (natürlich mit Ausnahme eines gewissen kleinen, aber übermächtigen und ganz unabweisbaren Wesens, das überall, selbst in dieses höchste Heiligthum, in jeder Minute sich hineindrängt und wenigstens die Hälfte von Allem bekömmt!), so kann ich Dir vom Übrigen nur wenig erzählen. Da mir viel daran liegt, recht ungestört zu sein, so habe ich mich gänzlich in meinem Studirstübchen abgekapselt, wo es auf den 3 Tischen, zwischen denen ich sitze, die mit Büchern, Heften, Atlässen, Tafeln, Zeichnungen, Gläsern, Instrumenten, Thieren etc ganz gehäuft bedeckt sind, wirklich recht gelehrt aussieht. Nur in der nächsten Nähe, grad über dem Hefte oben, steht ein Ding, was gar nicht recht in den gelehrten Kram passen will. Es ist ein kleines rundes Bildchen von einem allerliebsten jungen weiblichen Wesen, welche, wie Du weißt, mir von jeher herzlich gleichgültig gewesen sind, so daß ich ja sowohl hier als in Würzburg für einen ganz schlimmen Weiberfeind galt. Und dennoch, denke Dir, passirt aller Augenblick das wunderbare Factum, daß das arme kleine Ding unter Glas einen warmen Kuß aushalten muß, den es sich freilich kalt genug gefallen läßt! Kannst Du Dir das erklären? – Gestört werde ich in meiner Einsamkeit wenig und das ist mir jetzt das Allerliebste. Da kann ich alle freien Momente mit meinem süßen Liebchen in schönen Erinnerungen der Vergangenheit und hoffnungsvollen Träumen der Zukunft schwelgen. So ist mir das ganz abgeschlossene Leben (denn von meinen Freunden mag ich jetzt vorläufig Nichts wissen!) das mir gleich nach dem Heringsdorfer Paradies recht öde und todt vorkam, jetzt ganz lieb geworden. Meine traute Anna begleitet mich bei allen Gedanken und Handlungen und redet mit mir so lieb und munter, daß alle unnütze Traurigkeit verschwindet. Vor den Menschen habe ich aber jetzt im Allgemeinen einen wahren Abscheu und ich vermeide sie, wo ich kann. Ist mir jetzt ja doch ein Mensch mehr als alle andern zusammen! Vor den bevorstehenden Visiten habe ich aber einen ganz gehörigen Gräuel! ||

Mein unartiger Mund ist endlich wieder ganz gut. Auch die Mattigkeit hat sich verloren, so daß ich schon ganz munter und frisch Dich auf dem Bahnhof abholen werde. Doch gehe ich fast gar nicht aus, schon um keine Zeit zu verlieren. Und wohin sollte ich auch gehen? Berlin ist mir selten so traurig erschienen, als jetzt. Und wo man noch etwas Grünes sieht, wie in Reimers Garten (wo ich jetzt öfter nach Tisch die lieben Plätzchen aufsuche, wo ich mit Dir Veilchen gesucht und auf der Bank gesessen) da mischt auch schon das absterbende gelbe und rothe Herbstlaub seine Wehmuth in die Naturfreude. Ein constanter Spaziergang, der mich im Sommer fast täglich regelmäßig anzog und auf die Beine brachte, nämlich nach der (Dir vielleicht bekannten?) Alhambra, in deren Nähe man rothe Coaksfeuer prächtig im Kanalspiegel flammen sieht, hat jetzt merkwürdigerweise alle Anziehungskraft eingebüßt. Ich war bis jetzt summa summarum dreimal draußen! Freilich singen jetzt auch die Nachtigallen nicht mehr, wie am 4ten Mai! – Am Sonntag Nachmittag habe ich mich endlich einmal zu ein paar nothwendigen Visiten entschlossen, nämlich zu Prof. Braun (wo ich nur die sehr nette Frau traf) und zur Prof. Weiß, die mich schon wieder mit alter Zärtlichkeit zu verwöhnen anfängt. Gestern früh stellte ich mich J. Muellers Nachfolger, dem Prof. Reichert aus Breslau vor. Obgleich ich ihn noch nie gesehen (voriges Jahr auf der Durchreise von Wien hatte ich ihn in Breslau aufgesucht, aber nicht zu Haus gefunden) so empfing er mich doch sehr freundlich, wohl in Hinsicht auf meine Flußkrebsentdeckungen, von denen ihn einige sehr interessiren mußten, obwohl sie frühere Meinungen von ihm widerlegten. Er hielt mich über 1 Stunde fest und plauderte über die verschiedensten wissenschaftlichen Angelegenheiten. Als ich ihn schließlich bat, das Laboratorium, das Museum und dessen Bibliothek wie bisher fortbenutzen zu dürfen, erlaubte er dies aufs zuvorkommendste und bot mir alle Unterstützung an. Im Ganzen hat er mir sehr wohl gefallen. Im Einzelnen kann ich noch nicht näher über ihn urtheilen. || Jedenfalls ist er von J. Müllers Schülern derjenige, der vor Allen berufen erscheint, seine allgemeinen, philosophischen Standpunkte zu vertreten und schon aus diesem Grund ist erst hier sehr viel werth, wenn er auch als Lehrer im Speciellen manche Mängel haben soll. Dann hat er das große Verdienst, hier 2 sehr wichtige Richtungen der Naturforschung zur Geltung zu bringen, die bisher hier sehr vernachlässigt waren, die embryologische und histologische. Für mich wird Reichert vielleicht noch einmal von großer Bedeutung.

− Gratulationsbriefe oder Karten laufen fast noch täglich ein; heute von Hetzer aus Halle, der richtig in die Ferien gereist war, so daß die Merseburger, Hallenser und Leipziger die Anzeige 14 Tage später als die übrigen bekommen haben. Hetzer selbst ist ziemlich außer sich und kann sich gar nicht beruhigen. Dagegen habe ich von Braune gestern einen sehr lieben Glückwunsch bekommen. Haben Dir heut Mittag nicht die Ohren geklungen? Regierungs Rat Karo aus Merseburg, der jetzt öfters bei uns ißt, ließ Dich heut in sehr netten Versen leben, und daß da schön die Gläser klangen, kannst Du Dir denken! Hörtest Du’s nicht?

– Am Samstag Abend war ich mit Vater (seit langer Zeit wieder) in der geographischen Gesellschaft, wo der Astronom Bruns einen ausgezeichneten Vortrag über den Kometen hielt; erst eine allgemeine historische Einleitung, dann die Speciellen Verhältnisse dieses Donatischen Kometen. Vielleicht hast Du schon Einiges in der Zeitung über dies prächtige Meteor gelesen, das ich jeden Abend mit großem Vergnügen beschaue, und das Dir gewiß auch schon Grüße gebracht hat. Trotz seines herrlichen Glanzes ist der Kern sowohl als der Schweif so dünn, daß man andere Sterne hindurch sehen kann und daß unsere Erde, ohne was zu merken, durch ihn hindurch laufen würde. Er ist von viel zarterer Consistenz als unsere Nebel. Der Schweif ist ein Hohlkegel von 5 Millionen Meilen Länge. Die Umlaufszeit beträgt über 2000 Jahre. Bis zum 9ten October wird er sich uns noch nähern, also an Helligkeit und Glanz noch zunehmen. Seine Bahn ist parabolisch gekrümmt, 20 Millionen Meilen von uns jetzt entfernt. ||

Mittwoch früh.

Die Schilderung Deines jetzigen Heringsdorfer Stilllebens hat mich sehr erfreut, mein lieber Schatz, und ich wollte nur, daß ich so dann und wann in den Zwischenpausen der Arbeit hinüberfliegen und die schöne Ruhe stören könnte. Besonders lebhaft versetze ich mich immer Abends in der Dämmerung hinüber, wenn das Kaminfeuer angezündet wird, das ich so sehr liebe. Ich durfte ja nur einen einzigen Abend mit meinem süßen Liebchen im Arm mich seiner prasselnden Gluth freuen. Auch andere liebe Erinnerungsbilder verfolgen mich jetzt c recht lebhaft; unser Aquarellsitz und das nette Siestaplätzchen treten mir oft recht lebhaft vor die Seele (natürlich immer nur mittelst des „Vordergrundes“, den ich früher nie leiden konnte und der mir jetzt zur Hauptsache geworden ist!); auch an das schöne Korswand, den Fangel und den langen Berg denke ich oft recht sehnsüchtig zurück, und dann an den köstlichen Strand, wo uns der Mond eines Abend so schön aufging – und das Alles erscheint mir jetzt schon so fern, als wären Monate verflossen. Und doch liegt nur eine so kurze Zeitspanne dazwischen. Aber was haben die Gedanken in der [Zeitspanne] schon Alles angefangen! Im Traum verfolgst Du mich fast jede Nacht so lebhaft, daß ich mir früh erst die Augen reiben muß, um mich zu überzeugen, daß es wirklich nur ein schöner Traum war; so habe ich wenigstens vorgestern Nacht lange mit Dir Boccia gespielt, Dir aber den Sieg so vollständig lassen müssen, daß ich zuletzt 1:12 stand! Und gestern schaukelten wir uns bei ganz hohen Wellen in einem kleinen Boot so lustig, daß ich jedesmal, wenn es aus tiefem Thal auftauchend den weißen Kamm einer Welle erklettert hatte, laut auf jauchzen mußte. –

Daß Dir das Lesen der Ilias so viel Genuß gewährt, freut mich sehr; nur schade daß Du es nicht im Urtext lesen kannst, wo er doppelt groß sein würde. Es gehört der feste, metallisch reine Klang der alten griechischen Sprache mit ihrer wundervollen Eigenthümlichkeit nothwendig dazu. Mir war auch Homer d schon auf der Schule, wo einem doch die Klassiker durch das Einpauken ganz zuwider wurden, derjenige, den ich mit der größten Lust und Liebe las! (wie unter den Römern nachher Tacitus). Und als Student habe ich noch oft Mußestunden benutzt, um einen Gesang aus der Ilias oder Odyssee mir wieder lebensvoll ins Gedächtniß zu rufen. ||

III.

Von Tante Bertha, die heut mitschreiben wollte, ist wieder Nichts eingetroffen, so daß ich den Brief allein abschicke. Als ich das letzte Mal bei ihr war, sprach ich noch einmal von den 3 Briefen, die Du ihr aus Heringsdorf geschrieben hättest und sie versicherte, keinen einzigen erhalten zu haben (obwohl ich mich selbst erinnere ihr einen gebracht zu haben). Den „kleinen vergeßlichen Strick“, den Du mir anbinden willst, muß ich Dir aber zurückgeben, da ich den letzten (mitgebrachten) Brief noch am Tage nache unserer Ankunft durch Mutter hinausbringen ließ. Gegenwärtig ist Tante Bertha etwas außer sich über Deine Mutter, weil sie ihr zumuthe, die ganze Last, Unruhe und Plackerei von Jacobis Ankunft und Aufenthalt in N. 4 auf sich zu nehmen, während sie sich ganz bequem in ihrer Heringsdorf Ruhe pflege und sichs so leicht als möglich mache. Auch war sie so aufgeregt darüber, daß sie gar nichts damit zu schaffen haben wollte. Das wird also wohl noch einige Zusammenstöße zwischen N. 3 und 4 geben.

– Daß Jacobis (die Freitag hier eintreffen werden) nun hier wohnen, freut mich in vieler Hinsicht auch für Dich sehr; obwohl ich nicht läugnen kann, daß ich in anderer mich auch davor etwas fürchte. f Nach dem, was man von Andern darüber hört, führen sie doch ein sehr ausgebildetes sogen. höheres, feines Gesellschaftsleben mit allem Glanz, Luxus und Überfluß der vornehmen Leute; und wie mir Alles das aus Herzensgrund zuwider ist, weißt Du. Nun fürchte ich zwar keineswegs, daß Dein reiner, einfacher Natursinn sich durch so verlockendes Beispiel,g wie das einer Schwester, sollte verkehren lassen; Du bist gewiß ebenso wenig als ich von all den Firlefanzereien und Kinkerlitzchen der vornehmen Welt befriedigt; aber doch drängt sich auch in die einfachsten Gemüther unter solchen Verhältnissen der Wunsch und das Bedürfniß nach dem und jenem ein, was das Leben wohl bequem bequemer und angenehmer, aber ebenso auch komplicirter und bedürfnißreicher macht. Mein Wahlspruch bleibt aber der des Socrates: „Wer am wenigsten bedarf, ist der Gottheit am nächsten!“ – (Auch wird für eine arme Jenenser kleine Professorin sich der Luxus wohl wenig eignen!!) Übrigens vernichte dies Blatt lieber gleich nach den Lesen. ̶

Die Ältern grüßen herzlich. Komm nur recht bald, mein liebster Schatz, und schreibe auch recht bald wieder Deinem treuen Erni.

a korr. aus: vollständiges Heft; b eingef.: in; c gestr.: jetzt; d gestr.: das; e gestr.: nach; f gestr.: Ich; g gestr.: sollte

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
06.10.1858
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38356
ID
38356