Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Berlin, 22. August 1858

Berlin 22/8 58.

So eben habe ich in der schönen Sonntagsfrühe ausgepackt und auch in meiner Studirstube (die jetzt endlich einmal wirklich dieser ihrer Bestimmung gewidmet werden soll) wieder häuslich eingerichtet. Ich dachte so recht innig an das liebe süße Wesen, das dem Allen eigentlich erst seine rechte Weihe giebt, und jetzt schon ganz zu dem unzertrennlichen und unendlichen rothen Faden geworden ist, der durch alle Gedanken, alle meine Vorstellungen sich hindurchzieht. Da kommt grade zur rechten Zeit von Tante Bertha Dein Brief, mein herzliebster Schatz, und nun kann ich nicht anders, als Dir gleich frisch antworten, obgleich ein paar schöne gelbgefleckte Erdsalamander und schwarze Waldschnecken die ich aus Schwarzburg mitgebracht, zum Beginn meiner anatomisch-zoologischen Arbeiten, gleichsam als Eröffnungsfeier, heut früh secirt und microscopirt werden sollten. Nun ein Glück für sie, daß Dein lieber, lieber Brief mir Messer und Pincette aus der Hand genommen und die Feder hineingesteckt hat. Wenn nur die dumme Feder nicht ein gar so ärmliches und unzureichendes Instrument wäre. Wie wenige und kleine Trümmer nur, mein Herz, kann ich Dir immer auf dieser schmalen Brücke hinübersenden von der großen, überwältigenden Gedankenmasse, die ich stets für Dich im Herzen trage und Dir, in allen ihren Wandlungen, so gern ganz mittheilen möchte. Wie sind doch unsere Seelen schon so innig und fest zusammen gewachsen, daß sie durch Nichts, Nichts mehr zu trennen sind, und daß alle Gedanken, alle Ahndungen immer nur mit und und in dem „other I“ können zu Stande kommen. Und wie freue ich mich unendlich auf die herrliche Zeit (nun ja kaum mehr 14 Tage) wo ich Dir wieder „Herz an Herz und Lipp’ auf Lippe“ mein ganzes Ich so werde geben und das liebe Deine dagegen in Empfang nehmen, so ganz wie es ist, und wie es die ausführlichsten Briefe immer nur stückweis liefern können. || Wie oft sind wohl unsere Gedanken in den letzten 8 Tagen sich begegnet, meine Änni! Je bunter und mannichfaltiger die lebenvolle Bewegung in Jena sich gestaltete und a in ihren schönen Taumel mich hineinzog, desto lieber, heimlicher und stiller kehrte immer wieder mein Sinn an das entfernte liebe Herz zurück, wo es allein nur wahre Ruhe und Frieden findet. Mir ist so immer, als ob Du all die schönen und guten Augenblicke der verflossenen Jenenser Jubelwoche mit erlebt hättest; so unablässig hat Dein Bild mich überall hin begleitet. Es waren prächtige, reiche, fruchtbringende 8 Tage für mich, mein liebes Herz, und ich kann Max Schultze nicht genug dankbar sein, daß er mich bewogen hat, mitzukommen. Während einerseits das prächtige, freie, ungekünstelte Jenenser Studentenleben, das frische, jugendliche, fortschreitende Streben der Jenenser Wissenschaft, das nette freundschaftliche, collegialischste Zusammenleben der Jenenser Professoren, das ich immer mitb solcher Vorliebe verfolgte, sich bei dieser Feier in schönster Weise kund gaben, und die an sich schon so c prächtige Festfeier für mich noch ganz besonders werthvoll und interessant machten, so hat andrerseits das zufällig damit zusammentreffende, innige Zusammenleben mit den 4 jungen Professoren, die in Gegenbaurs Hause als Gäste sich zusammenfanden, und der Verkehr mit manchen andern akademischen Größen, die uns eben da besuchten, mir ebenso viel Nutzen als Vergnügen gebracht, und meinen akademischen Ideenkreis ganz bedeutend erweitert. Während es mir anfangs fast etwas ängstlich und beklemmend war, daß ich, als kaum flügge gewordener Nestvogel, mich in diesen Kreis von so ausgezeichneten Männern der Wissenschaften, die schon mit kräftigem Flügel zu ihren höchsten Höhen sich emporgeschwungen hatten, etwas kühn hineindrängte, so wich dies Minoritätsgefühl doch bald dem liebevollen freundschaftlichen, ungezwungenen Ton, der unter dieser Gesellschaft herrschte, und dem freundlichen, entgegenkommenden Zutrauen, mit dem mich die 4 Professoren in ihren Kreis hineinzogen und gleichsam auch als ein Stückchen künftigen Prof. ansahen. || Namentlich bin ich mit Gegenbaur und Schultze in diesen Tagen um vieles vertrauter und bekannter geworden. Friedreich der übrigens ein sehr netter und tüchtiger Mensch ist, obwohl nicht besonders vorragend, stand uns durch seine specielle Fachrichtung als Kliniker ferner, und in Carus, den ich vorher noch nicht kannte, habe ich mich nicht sehr hineinleben können. Zwar ist er ein sehr gelehrtes Haus und um unsre Wissenschaft im engeren und weiteren Kreis sehr verdient; aber unsre ganze Art zu denken und zu handeln, ist zu verschieden (er ist auch über 10 Jahre älter), als daß ich mich ihm so, wie andern Freunden, hingeben könnte. Dieser Grund hat nicht wenig zu dem Entschlusse beigetragen, meine große Reise allein zu machen, obwohl sowohl Schultze als Gegenbaur mir sehr zu redeten, sie mit Carus gemeinsam anzutreten, der dieses selbst sehr wünschte. Allein grade wie mir Alle so zuredeten, wurde es mir im Innersten erst recht klar, daß ich den vollen Nutzen, den ich von dieser großen Unternehmung im reichsten Maaße hoffe, die Umgestaltung und Wiedergeburt meiner ganzen Lebensanschauungen, die ich davon bestimmt erwarte, in ihrem ganzen Umfang nur erlangen werde, wenn ich mich selbst auf ein Jahr in die Verbannung schicke und mich zwinge, mit mir allein seelig zu werden. Entweder – oder – Alles oder Nichts, die Erfüllung oder die Vernichtung aller meiner Hoffnungen und Pläne muß mir diese schwere Arbeit, an die ich alle meine Kräfte setzen werde, mit entscheidender Gewißheit bringen, und das kann sie nur, wenn ich mit mir selbst allein, durch keinen fremden, disharmonischen Eindruck gestört bin! Daß endlich auch der Gedanke, wenn ich mit Carus reisen wollte, schon Mitte September fort zu müssen, mir ganz unerträglich war und das Seinige zu meinem Entschluß beitrug, weißt Du selbst, mein bestes Herz, zu gut, als daß ich dies verschweigen könnte. Der Entschluß ist also jetzt endlich definitiv gefaßt. Alea jacta est! Mögen die Götter gnädig die Erfüllung aller Wünsche und Hoffnungen, die ich davon hege, herbeiführen. Ich gehe Ende December oder Anfang nächsten Jahres ab und werde die 4 Monate bis dahin noch bestens zur Arbeit benutzen! Und wozu noch? ||

Ganz besonders hat es mich gefreut, daß ich dem lieben, prächtigen Menschen Max Schultze durch dieses mehrtägige Zusammenleben noch um vieles näher gekommen bin. Ich wollte nur Du kenntest ihn auch, um ihn mit mir zu lieben und zu bewundern. Er ist jetzt, nach Johannes Müllers Tode, das Ideal eines Naturforschers, auf das ich meine ganze strebende Kraft hingerichtet habe. Alles was ich bis jetzt von Max Schultze kenne, von seinen ausgezeichneten wissenschaftlichen Leistungen, wie von seinen liebenswürdigen, menschlichen Eigenschaften, von seinem kindlichen, unbefangenen Natursinn, seinem Benehmen als Lehrer und Freund, seinem allerliebsten Familienleben, nimmt mich so unbedingt für ihn eind, daß ich mir nur vorgenommen habe, in jeder Beziehung ihm nachzustreben (Weißt Du auch, meine Cousine, in welcher Beziehung ich das schon gethan habe?) Und am meisten hat es mich gefreut, daß Max Schultze mich auch gern hat und meine Neigungen und Strebungen versteht. Wenigstens bilde ich mir das fest ein! –

Auch mit Gegenbaur, unserm gastfreien, liebenswürdigen Wirthe, bin ich in diesen 8 Tagen noch recht bekannt geworden und habe manche neue liebe Seite an ihm entdeckt. Wir scherzten und neckten ihn viel mit der Frau Ordinaria, die er nun, als ordentlicher Prof., sich nothwendig zulegen müßte. Der Glückliche, nun schon so weit zu sein!! Denke Dir, wenn ich nicht nach Italien ginge, könnte ich jetzt bei Gegenbaur Prosector werden, mit 250 rℓ Gehalt und freier Wohnung! Wäre das nicht reizend? Der Gedanke stieg mir anfangs, mit 1000 andern herrlichen Träumen wie ein Lichterbaum aufsprießend, so zu Kopf, daß ich fast an meiner Reise irre geworden wäre und auf einmal ein ganz anderes Gebiet beträten hätte. Doch besitze ich glücklicherweise neben meiner idealisch träumerischen Einbildungskraft noch Besonnenheit genug, um über dem so nah liegenden Guten nicht zu vergessen, nach dem entfernten Bessern zu streben. Übrigens darfst Du dies niemand mittheilen. Es soll geheim bleiben.

Sonntag Nachmittag

So eben komme ich von Tante Bertha, wo wir mit Clara v. Brauchitsch, deren Bruder und Mutter, und mit Onkel Julius zusammen gegessen haben. Es war ganz nett. Nur gerieth ich in nicht geringe Verlegenheit, als Frl. v. Brauchitsch plötzlich ganz ex abrupto mich fragte: „Haben Sie viel mit Anna diesen Winter getrieben?“ – Der nächste Effect war, daß ich über und über heiß und roth wurde, und was ich eigentlich antwortete, weiß ich nicht. Gescheut mags aber grade nicht gewesen sein, da sie gleich darauf dem Gespräch eine andere Wendung gab. Woher nur dieser electrische Funke?

− Von Jena ging ich mit Gegenbaur am Donnerstag früh ins Schwarzathal, wo wir uns [bis] Freitag herumtrieben. Gestern hielt ich mich noch einige Zeit in Kösen und Halle auf und kam dann Abends 10 Uhr hier an. Das Genauere über die Reise und das Fest nächstens, mein lieber Schatz, da ich gleich abbrechen und den Brief an Onkel Julius mitgeben will, der heut Abend noch nach Stettin reist. Hab herzlichen Dank für Deinen lieben letzten Brief und schreib mir recht bald wieder einen. Hoffentlich bringt er mir Nachricht, daß es mit Deinem Husten ganz vorbei ist und daß Du wieder in See baden kannst. So lange Du noch hustest, darfst Du aber nicht baden. Pflege Dich nur recht, mein liebes Herz, daß Du recht munter bleibst. Herzlichen Gruß und Kuß von Deinem

Erni

Morgen früh geht nun das restliche Arbeiten los. Das soll mal schmecken, namentlich wenn ich an die Ferien in 14 Tagen denke. || Die Alten lassen ebenso wie ich alle bestens grüßen. Von Karl haben wir gestern einen etwas hypochondrischen Brief geheilt. Ich werde versuchen, ihm seinen Kopf medicinisch zurecht zu setzen. Mutter kann an Hermine nicht mitschreiben, da sie wieder einmal ihre Finger mit Schulzenpflaster umwickelt hat.

Quinke ist mit Sohn nach Thüringen gereist.

a gestr.: ich; b irrtüml.: mich; c irrtüml. Dopplung: so; d eingef.: ein

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
22.08.1858
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38345
ID
38345