Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Stettin, 14. September 1860

Stettin 14.9.60. – Abends.

Glückauf, liebste, beste Änni, zum Beginn Deines 26sten Lebensjahres, zu dem Dir Dein treuer Erni noch einen besonderen, innigen Gruß schicken muß.

Mir ists doch gar nicht Recht, daß ich grade heut Abend nicht bei Dir sein kann, und ich komme mir hier im einsamen Stübchen im Hôtel du Nord seltsam verlassen vor. Indeß suche ich mich durch den Gedanken an den schönen Vormittag und an die baldige Rückkehr schadlos zu halten. Es war doch sehr lieb, daß ich doch wenigstens den Morgen Deines Festtages heut noch mit Dir zusammen sein konnte, und ich rufe mir gern das Bild meines rosigen neu verjüngten Mädchens zurück, wie es mir auf der Höhe der Düne unter dem kleinen Kieferdach die empfangene Liebe mit Wort und Kuß erwiderte und mir dann mit dem Tuche den Abschied auf baldiges Wiedersehen zuwinkte. Nachdem Du hinter dem weißen Dünensand verschwunden warst, liebster Schatz, schlug ich am Strand wieder den gewohnten Alpenschritt an, was auch sehr nöthig war, da ich mich bald überzeugte, wie unrichtig Deine Rechnung sei, daß Ahlbeck halbwegs zwischen Heringsdorf und Swinemünde liege. || Trotzdem ich tüchtig marschirte, kam ich erst gegen ½ 1 in Swinemünde an. Glücklicherweise hatte sich das Dampfschiff auch verspätet und wurde dazu noch durch Aufladen einer Parthie Ochsen so aufgehalten, daß es, bald nach mir angelangt, erst um 1 Uhr wieder abfuhr. So gewann ich Zwischenzeit, um noch nach der Apotheke zu gehen und Dir Höllensteinlösung für Deinen Finger zu verschreiben. Sollte sie noch nicht abgeholt sein, so laß sie baldigst holen.

Mache kleine Kompressen um das kranke Fingerglied, welche Du mit ein paar Tropfen der Lösung tränkst. Die Haut wird an der betreffenden Stelle danach schwarz werden und dadurch ablösen. Gewöhnlich wird aber Entzückung und Eiterung dadurch vermieden. Sollten die Umschläge aber wehe thun, so höre sogleich damit auf. Nimm Dich auch in Acht, daß a Du keine Flecken und Löcher in Dein Zeug mit der Lösung machst.

Thut es nicht weh, so fahre ein paar Tage mit den kleinen Kompressen fort. Von da ging ich auf die Post, wo ich zu meiner großen Freude das Paket von Wagenschieber vorfand und erhielt. Es enthält die recht gelungenen Abdrücke von 6 Tafeln. Die Fahrt war bei dem prächtigen Wetter köstlich und Du kannst denken, wie ich bedauerte, nicht mir Dir zusammen sein zu können. ||

Der Abend war so köstlich, daß ich nach der Ankunft noch etwas am Stande und in den Anlagen promenirte und besonders einer Gruppe reizender abendrosiger Lämmerwölkchen die besten Grüße für meinen lieben Schatz auftrug. Hoffentlich habt ihr das köstliche Wetter auch noch zu einem Ausfluge benutzt. – Wenn Du mich in Königsberg durch einen Brief erfreuen willst, liebster Schatz, so schicke ihn spätestens Montag früh (um 8 Uhr) ab und adressire: Dr. H. p. Adr. Hrn. Professor Caspary zu Königsberg in Preußen. Sei recht munter und vergnügt, lieb Herz, und halte Dein 25jähriges Cadaverchen recht frisch und gesund, daß Du nach meiner Rückkehr tüchtig mit im Wald umherwandern kannst. Grüß Hermine und Mutter herzlich und laß Dir noch einen schönen Gutenachtkuß geben von Deinem

treuen Erni.

a gestr.: g

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
14.09.1860
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Heringsdorf
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38334
ID
38334