Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Freienwalde, 3. September 1860

Freienwalde 3.9.60.

Gestern Abend wollte ich den Brief von vorgestern beenden, liebster Schatz, als wir von Frau Geheim Rath Kluge (einer Bekannten Deiner Mutter aus Münster) zum Thee eingeladen wurden, wo ich mit deren Sohn, welcher als Holländischer Marinearzt sehr schöne Reisen durch die ganze Welt gemacht hat, ein paar interessante Stunden verplaudert habe. Er erzählte Viel aus Ost- und West-Indien, und besonders war es mir interessant, einmal nähere Nachrichten über das gelbe Fieber zu erhalten, welches er selbst gehabt und eine ordentliche Epidemie an Bord seines Schiffes hat durchmachen müssen. Vorher war ich bei dem alten Prof. Valentini aus Rom, welcher ganz glücklich war, einmal eine italienische Unterhaltung führen zu können. Ich hatte eigentlich mir für gestern einen hübschen Spaziergang versprochen; allein das Wetter war trübe und regnicht, was mir für das Berliner Turnfest, bei dem Karl zum II Vicepraesidenten erwählt ist, sehr leid thut. Wirds dieser Tage schön, so werde ich wieder einmal tüchtig im Wald herumlaufen, da ich mich in dieser Woche ordentlich abgearbeitet habe. Ich habe von früh bis zum späten Abend, fast wie in Messina, ununterbrochen hinter meinen lieben Radiolarien gesessen u. bin durch ein paar ebenso unerwartete als interessante Funde (in dem mitgebrachten Mulder) reichlich belohnt worden. a Wieder gab es nicht nur ein paar neue Arten, sondern auch eine sehr merkwürdige Thatsache hinsichtlich des innern Baues. ||

Du glaubst nicht, wie sich während der Arbeit der Gesichtskreis derselben erweitert, und mir allmählich ein neuer Gedanke nach dem andern aus dem bunten Chaos der ungeordneten b Anschauungen klar und gewaffnet hervorspringt. Ich beherrsche jetzt mein Thema so vollkommen und habe solche Lust, es möglichst vollkommen zu bearbeiten, daß ich die größte Lust hätte noch einmal an die See zu gehen, um die großen Lücken der ersten Beobachtungen, namentlich die höchst dürftigen Notizen über die Lebenserscheinungen, zu ergänzen.

Ich würde dies jedenfalls thun, wenn nicht über allen diesen Bestrebungen herrschend und lenkend ein gewisser kleiner blonder, blauäugiger Engel säße, welche meine Herzensneigungen so ausschließlich beherrscht und lenkt, daß selbst die dringendsten wissenschaftlichen Wünsche ganz hinter ihm zurückzustehen. Wäre dieser kleine gebieterische Querstrich nicht, welcher mir auch jetzt bei der Arbeit ein – „Bis hirher und nicht weiter!“ – zuruft, so würde ich jedenfalls jetzt auf 4 – 6 Wochen nach Nizza oder Triest gehen, wodurch der Werth meiner Arbeit bedeutend steigen würde. Überhaupt würde ich weit mehr Zeit und Arbeit auf Fortsetzung der Untersuchungen u. Erwerbung neuen, ergänzenden Materials, als auf Ausarbeitung des schon vorhandenen verwenden. So aber ruft mir jeden Augenblick meine „suprema lex“ ins Ohr: Bis dat, qui cito dat! und dringt vor allen darauf, daß das Radiolarien Werk bald erscheine, weil von dessen Wirkung doch am ehesten noch eine baldige Erfüllung unser beider innigsten Wünsche und Strebungen zu hoffen ist. || Daß es aber da doch noch zuweilen einen heißen Kampf giebt, in dem der alte, längst unterworfene Wissenschafts-“Ernst“ c gegen den jungen übermächtigen Liebes „Erni“, wenn auch ganz vergeblich, sich zu empören sucht, kannst Du denken; besonders sucht mich dann der erstere durch den Gedanken zu ärgern, daß aus der „hehren, der herrlichen Göttin“ der Wissenschaft „die melkende Kuh geworden ist, die mich mit Butter (d. h. mit einer Professur) versorgen soll.“! Indeß sei unbesorgt; Dein auf die innigste Liebe gegründeter Thron steht zu fest, als daß auch die heftigsten Anstrengungen der treulos verschmähten Wissenschaft ihn zu erschüttern vermöchten; und um so fester, je mehr die selige Ruhe der Stunden, die ich in Deinen Armen verträumte, mit der Unruhe des Zweifels constrastiren, in den mich die wissenschaftlichen Gedanken immer wieder kalt und trostlos hinausführen! Insofern übrigens grade jetzt meine Arbeitslust im besten Blühen und eine ganze Reihe von Gedanken in der Ordnung begriffen ist, welche bald niederzuschreiben mir sehr am Herzen liegt, kam mir Dein Wunsch im letzten Briefe, lieber die letzte, als die erste Hälfte September bei Dir zu sein, nicht ganz unlieb. Zwar hatte sich das unnütze Herz schon gewaltig gefreut, heute das Ränzel zu schnüren und morgen zu Dir hinüberzuwandern und eine Reihe lieblicher Bilder hatten mich schon lebhaft für diesen Plan eingenommen; nun Du aber selbst es auch netter findest, daß ich erst am 20. oder 21 komme, bin ich insofern ganz damit einverstanden, als ich nun in den nächsten 14 Tage noch tüchtig an der Arbeit schaffen kann. ||

10 Uhr Morgens. So eben kommt Karl von Berlin, wo er mit seinen alten Heidelberger Freunden (Ägidi, Meyer, Esmarch) sehr vergnügt gewesen und gestern als I Vicepraesident das Turnfest mit geleitet hat. Ich hatte vorgestern gleich bei den Eltern wegen des Heringsdorfer Besuchs angefragt. Sie sind zwar damit einverstanden, daß ich erst nach der Königsberger Reise nach Heringsdorf komme, halten aber den Besuch am 13 und 14. für unnöthig und meinen es wäre das beste, ich reiste über Berlin. Schlimmer aber als dieses Hinderniß ist die Zeitklemme, in die ich gerathen würde, wenn ich am 14 noch bei Dir wäre. Man braucht nämlich von Stettin bis Königsberg noch 24 Stunden auf der Bahn und da ich erst am 15 Nachmittags in Stettin wäre, würde ich erst am 16. Abends in Königsberg ankommen. Dann ist aber ein Theil der Versammlung, den ich nicht versäumen möchte, schon vorüber; aus diesem netten Plan, c auf den ich mich nach Deinem letzten Briefe sehr gefreut hatte, wird also leider nichts werden und Du mußt also durchaus, statt am 14, in diesem Jahr am 24 geboren werden. Dann aber wollen wir doppelt vergnügt und glücklich sein, nicht wahr, liebster Schatz?

– Die Alten haben in Berlin viel Trouble gehabt. Jetzt ist Madame Merkel als Besuch da. Am Samstag Nachmittag haben sie Helene Naumann begraben, ein wahres Glück! – Karl und Mimmi grüßen Dich Mutter und Hermine herzlich. Sei recht munter und vergnügt, liebster Schatz, wie Dich mir Dein letzter Brief schildert. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie froh und leicht ich bin, seit ich weiß, daß Dich die bösen Furunkeln nicht mehr quälen. Ich habe in der Ferne mehr Unruhe darüber ausgestanden, als Du durch den Schmerz. Springe recht munter in Wald und See umher und denke dabei auch ein bischen(?) an Deinen treuen Erni.

a gestr.: Ich; b gestr.: Ged; c gestr.: den

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
03.09.1860
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38322
ID
38322