Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Freienwalde, 20. August 1860

Freienwalde. Montag 20.8.60.

So eben beim Kaffeetrinken erfreut mich Dein lieber Brief, mein bester Herzensschatz, auf den ich gestern den ganzen langen, einsamen Sonntag vergebens gewartet hatte. Statt mit Arbeiten, will ich nun die neue Arbeitswoche gleich mit etwas Lieberem, mit der Beantwortung Deiner lieben, herzigen Zeilen, beginnen, um so mehr, da ich leider aus Deinem Brief ersehe, daß Du meinen letzten nicht erhalten hast. Am Dienstag früh, eben als Karl abgereist war, überraschte mich Dein erster Brief aus Ziegenort und ich beantwortete ihn noch am selben Tage. Doch schickte ich ihn erst Mittwoch Mittag ab, was den Vortheil hatte, daß ich noch einen von den Eltern früh angelangten mit einlegen konnte. Da Du ihn noch nicht einmal Sonnabend erhalten hast, muß er jedenfalls verloren gegangen sein, was mir besonders leid thut, da der Alte darin sehr nett über Schlesien geschrieben hatte. Der meinige war auch in besserer Stimmung als der heutige geschrieben. Ich hatte am Dienstag unter den mitgebrachten Schätzen aus Messina (gewiß nur eine Fortsetzung der Brieffreude) 2 schöne neue Acanthometren entdeckt, und, was mir noch viel lieber war, endlich eine sehr schwierige und interessante Frage definitiv erledigt, die mir schon in Messina aufgestoßen war, mit der ich mich aber bisher immer vergebens abgequält hatte. Das war ein neuer Sporn zur tüchtigen Arbeit, die denn auch in diesen einsamen Tagen tüchtig vorgeschritten ist, wenngleich der dumme Cadaver wieder einmal etwas unartig war. ||

Zu meinem großen Bedauern höre ich, daß Dich wieder die dummen Blutgeschwüre quälen, was Du schon in Berlin befürchtest. Hoffentlich schaffst Du sie Dir aber diesmal recht schnell ab, wobei Dir die gesunde schöne Luft in Heringsdorf gewiß helfen wird. Könnt’ ich sie lieber für Dich haben; dann könntest Du doch wenigstens baden, was Dir wahrscheinlich Quincke, so lange die Furunkeln auf sind, nicht erlauben wird. Mein dummer Cadaver ist jetzt ohnehin nichts nütze, und in Folge einer sehr starken Erkältung tüchtig herunter gekommen.

In der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag hatte ich einen sehr ängstlichen Traum, den ich schon öfter gehabt habe. Ich schwamm in den tobenden Wogen einer sehr heftigen Brandung. Die sehr hohen Wellen drohten mir immer den Athem zu benehmen, sodaß ich ein beständiges ängstliches Erstickungsgefühl hatte. Ich mühte mich vergebens ab, schwimmend eine überhängende Klippe zu erreichen, auf der Du saßest und Deine lieben Arme ausbreitetest, mich zu empfangen. Aber so oft ich so hoch empor geworfen wurde, um sie erfassen zu können, warf immer die zurückweichende Woge mich wieder in die schäumende Tiefe hinab. Ich habe diesen angstvollen, beklemmenden Traum schon öfter in ganz ähnlicher Weise gehabt; das ihm zu Grunde liegende Gefühl habe ich aber auch einmal wirklich erlebt, wo ich nämlich in Helgoland bei sehr heftigem Sturm, bei dem Niemand badete, in einem kleinen Boot || hinausfuhr und von da aus in die Wellen sprang. Ich hatte damals große Mühe, wieder ins Boot zu kommen und so große Freude mir der Kampf mit den furchtbaren Wellen machte, so war er doch nicht ohne ein ähnliches erdrückendes Beklemmungsgefühl, da die unaufhörlich sich überstürzenden Wogen mir mehrmals allen Athem benahmen. Dasselbe Gefühl hatte ich auch wieder in jener Mittwoch Nacht und muß dabei wohl sehr lebhaft mit den Armen und Beinen im Bett um mich geschlagen haben; denn als ich am Morgen erwachte, lag ich ganz bloß und war ganz steif und kalt geworden; die Decke lag an der Erde. Glücklicherweise hatte ich, da es den Abend sehr kalt war, die Fenster, die ich sonst meist Nachts auflasse, zugemacht; sonst wäre die Erkältung wohl noch schlimmer geworden. Sie war so schon arg genug. Der Hals war rauh u. heiser, der Nacken ganz steif und im Lauf des Tages gesellten sich dazu heftige Zahnschmerzen. Am andern Tag (Freitag) war die ganze eine Hälfte meines Gesichts dick geschwollen. Erst gestern wurde es wieder besser, wo ein großes Zahngeschwür, das sich ausgebildet hatte, aufgegangen ist. Doch werde ich wohl noch ein paar Tage in der geschlossenen Stube bleiben müssen. Daß mir diese Intermezzo grade jetzt just nicht angenehm war, kannst Du denken, und wie ich mich nach einem gewissen Paar Händchen sehnte, die mich so nett „küstern“ können!!

Ich will nicht hoffen, daß Dich Deine Furunkeln so ärgerlich u. ungeduldig gemacht haben, als mich diese dummen Quälereien. Gewöhnlich pflegst Du ja in diesen || unangenehmen Zuständen viel vernünftiger als Dein unnützer Erni zu sein, wie ihr Frauen denn überhaupt zum Leidertragen weit besser organisirt seid, als wir Männer. Du kannst denken, wie mir meine Einsamkeit in diesen Umständen doppelt schwer geworden ist; ich bin immer gar zu ärgerlich, wenn ich meiner Aufgabe mich nicht ganz u. gar mit allen Kräften hingeben kann. Übrigens habe ich denn doch trotzdem das Mögliche geleistet. Ich habe in diesen 8 Tagen nicht Tafeln gezeichnet, sondern den Text des Radiolarien-Werks begonnen und habe bereits 12 Bogen geschrieben. Es geht leichter als ich mir gedacht habe. Dazwischen habe ich auch wieder microscopirt und a ergänzende Beobachtungen angestellt. Die eine Familien, Acanthometren, ist nun in Bild u. Beschreibung schon ganz fertig. Wie sehr mir auch die Arbeit Freude macht und wie angenehm es ist, daß ich alle Zeit ausschließlich darauf verwenden kann, so kann ich doch nicht läugnen, daß ich sie zuweilen etwas satt bekomme und mir Abwechslung wünsche. So wie bisher sie zu treiben, von früh 5 bis Abends 10 in einem Fort immer nur denselben Gegenstand, nur 1 Stunde Mittag und 1 Stunde Zeitungslesen ausgenommen, das werde ich nicht lange mehr aushalten. Besonders Abends möchte ich gar zu gern den Geist auf ein andres Gebiet b tragen, dem er sich nur mit zu großer Leidenschaft zuneigt. Wie sehr Du mir ganz besonders da fehlst, und wie ich Dich hersehne, brauche ich Dir nicht erst zu sagen. || Ganz besonders schwer fällt mir meine Einsamkeit am Sonntag. Du glaubst nicht, wie innig ich Dich gestern hergesehnt habe; hätte ich Dich nur ein kleines Stündchen hier haben können! Gestern, Sonntag Nachmittag, mußte ich recht lebhaft den Unterschied zwischen sonst und jetzt, d. h. zwischen dem früheren, nur anc seiner Wissenschaft sich freuenden Verstandes-Erni, und dem jetzigen, in einer ganz andern Geistessphäre sein höchstes Glück findenden Gemüths- oder Liebes-Erni, empfinden. Sonst, als Student war der Sonntag Nachmittag immer ausschließlich den am höchsten stehenden Lieblings-Spielereien gewidmet, also entweder dem Herbarium, oder den zoologischen Sammlungen, oder der Repetition von Reise-Erinnerungen, oder dem freien Herumstreifen in Wald u. Feld. Jetzt haben diese früher so mächtigen Reize allen specifischen Zauber verloren und über Alles, Alles Andere hinwegspringend, beschäftigt sich das (nun zu sehr) exclusive Gemüth, allein mit dem Gegenstand, der sein Ein und Alles, sein Erstes u. Letztes ist! Da klage ich denn auch wohl, wie gestern, das harte Schicksal an, das uns, wenn wir uns kaum ein paar Tage genossen, immer u. immer wieder trennt! Und dann fühle ich wieder recht, wie ganz halb und getheilt mein jetziges Leben ist; wie sehne ich mich nach dem endlichen Frieden und der seligen Ruhe, die mir nur in dem steten Zusammensein mit Dir bestem Herzen werden wird! Wie bin ich doch gegen früher umgewandelt, wo ich immer von Liebe und Gemüthsleben nichts wissen wollte, und alle Regungen, die auf eine etwaige Zuneigung zu einem weiblichen Herzen hätten führen können, mit krampfhafter Gewalt fern von mir hielt. || Ich kannte mich schon damals recht gut und ahnte ganz richtig wie eine etwaige Beschäftigung und Cultur meiner Gemüthsseite, die ich von jeher immer tiefer zu stellen suchte, als die schwächer angelegte Verstandesseite – wie ein Hinneigen zur anderen leichteren Seite der menschlichen Existenz mich, wenn ich nachgäbe, bald ganz auf diese andere Seite des Geisteslebens hinüberziehen würde. Und der Erfolg bestätigt mir dies nur zu sehr! Seit dem bösen Staatsexamen, wo der unbefriedigte Verstand dem sehnenden und strebenden Gemüth nur zu sehr nachgab, seit Muellers Tode, wo mir mein ganzes bisheriges Wissenschaftsleben mit dem Untergange meines leitenden Sternes in dunkle Nacht zu versinken schien, endlich ich seit dem 3. Mai, wo die durch diese Ereignisse günstig vorbereitete Krise wirklich eintrat, – Wie anders ist seitdem Alles geworden! Und doch, wie ungleich glücklicher und reicher bin ich jetzt! Oder vielmehr wie hoffe ich es zu werden, wenn ich Dich erst ganz besitze! Denn dies ewige Sehnen u. Verlangen ist wirklich bald zu schwer, und ich werde gewiß erst ein vernünftiger u. brauchbarer Mensch, wenn Du allen den Thorheiten u. Verkehrtheiten meines seltsamen Wesens durch Deinen lieben, kräftigen Einfluß immer das rechte Gleichgewicht hältst.

Ach, liebster Schatz, wenn sie doch erst käme, die schöne, herrliche, tiefersehnte Zeit, wo ich in und mit Dir mein eigentliches Leben erst beginnen werde. ||

Dieser Tage erhielt ich auch wieder einen Brief von Gegenbaur, welcher mich dringend bittet, die Habilitation sehr zu beschleunigen. Ich werde es nun vielleicht so machen, daß ich im November auf ein paar Wochen nach Jena gehe, mich habilitire, aber ohne zu lesen, und dann d wieder nach Berlin zurückkomme. Denn die Radiolarien müssen jetzt durchaus vom Stapel laufen! Gegenbaur ist mir übrigens wahrhaft rührend. Diese Theilnahme und Sorge für mich ist wirklich ungerechtfertigt, und ist mir namentlich bei Gegenbaurs Persönlichkeit fast räthselhaft. Gegenbaur gilt für eine stolze, harte, und kalte Natur; ich habe aber jetzt die Beweise vom graden Gegentheil in den Händen; und wenn sein ganzes Wesen auch eine eigenthümliche Abgeschlossenheit u. Einseitigkeit zeigt, so muß ich die wahrhaft edlen Seiten seines trefflichen Characters nur um [so] mehr anerkennen u. hoch schätzen. Die Art u. Weise wie er sich jetzt bemüht, die Bahn für mich zu ebnen, ist mir in der That rührend und fast unerklärlich, da ich mir nicht bewußt bin, ihn durch irgend eine Leistung oder ein Verdienst dazu angeregt zu haben. e Wenn unsere süßen Jena-Träume in Erfüllung gehen sollen, wie es fast den Anschein hat, so dürfen wir ihm doppelt dafür dankbar sein, und werden auch genug Gelegenheit haben, seine Freundschaft durch die That zu erwiedern. Ähnlich geht es mir übrigens mit Max Schultze, und ich könnte fast etwas stolz darauf werden, daß grade diese beiden trefflichen Leute, welche sicher in unserer Specialwissenschaftf unter allen jüngeren Kräften weitaus die bedeutendsten sind, sich so für mich interessiren. ||

– Mit Ägidis habe ich noch gar nicht gesprochen, wie ich denn überhaupt, seit Carl (der von Sonnabend bis Dienstag früh wegen Geschäften hier war) abgereist ist, keine Menschenseele gesprochen habe. Da ich wegen der dummen Erkältung nicht ausgehen durfte, bin ich auch seitdem ich von Berlin wieder zurück bin, noch mit keinem Schritt in den lieben Wald gekommen. Ich fürchte mich ordentlich davor! Hatte ich doch all den lieben Bäumen und netten Plätzchen versprochen, meinen lieben Herzensschatz zu zeigen und mitzubringen; und nun kann ich das Versprechen nicht einmal erfüllen. Das Grün des Walds wird mir, so schön es ist, farblos erscheinen! Mindestens fehlt ihm zu seiner vollen Wirkung das rosige Roth zweier gewisser Wangen, (und Roth ist nach dem bekannten physikalischen Gesetz ja allein die rechte und nothwendige Complementaerfarbe für das Grün!). Wirklich frischen grünen Wald wird es für mich erst wieder in Heringsdorf geben, und wie ich mich darauf freue, brauche ich Dir nicht erst zu sagen. Indeß werde ich doch wahrscheinlich erst am 19 oder 20sten kommen, da mir die Naturforscherversammlung in Königsberg zu wichtig erscheint. Du mußt Dir also schon in diesem Jahr gefallen lassen, 6 Tage später geboren zu werden! Dann wollen wir aber den 14 September ordentlich nachfeiern, nicht wahr, Du bester Schatz? Bestell nur bessers Wetter, als wir jetzt hier haben, stets Regen u. Sturm. ||

Die Alten, von deren Leben in Hirschberg und von Adolphs Hochzeit Dir Vaters Brief ausführlich erzählt haben würde, sind jetzt auf verschiedenen Besuchen in Schlesien unterwegs. Sie werden am 24. wieder in Berlin sein.

Karl wird wohl Mittwoch oder Donnerstag mit Mimmi u. den Kindern wieder kommen. Ich freue mich ordentlich wieder etwas Leben u. Bewegung um mich her zu haben, wenngleich die Arbeit nicht mehr so ungestört fließen wird u. ich auch Karls schöne Arbeitsstube wieder räumen muß, die ich mir sehr bequem eingerichtet hatte. Jetzt ist die Zeitungslectüre meine einzige Abwechslung, welche übrigens grade jetzt äußerst interessant wird. Mit welcher Sympathie ichg jeder Bewegung Garibaldis folge, kannst Du denken. Der Torre del Faro, die äußerste Nordostspitze der Insel, von der so viel jetzt die Rede, und die durch seine Strandbatterien jetzt wohl bekannt geworden ist und noch mehr werden wird, ein höchst wichtiger, strategischer Punkt, ist mir durch mehrere Excursionen, da ich von dort aus prächtig die Gedanken über Meer und Alpen nach Norden fliegen lassen konnte, sehr lieb geworden. Auch ist daselbst an einem sehr stürmischen Tage der „Sylvestertraum“ von Messina entstanden. – Die letzten Abendstunden, wo ich durchaus keine Gedanken für die Radiolarien mehr hatte, hab ich mich jetzt immer durch italische Briefe von Dir h für die Entbehrung Deines eignen so sehr ersehnten lieben Selbst entschädigt. Auch habe ich jetzt, seit langer Zeit zum erstenmal wieder, eine ordentliche Lectüre angefangen, der ich mich von 16 – 11 Abends mit großem Genusse hingebe: Webers Weltgeschichte. Sie ist zwar nicht sehr ausführlich u. umfangreich, aber sehr angenehm geschrieben. || Mit dem größten Interesse habe ich darin jetzt die Geschichte der Revolutionen von 1848 – 54 gelesen, und mein patriotischer, d. h. demokratischer, Eifer ist dabei bedeutend wieder entflammt worden. Ich werde jetzt jedenfalls regelmäßig fortfahren, mich mit Geschichte, besonders mit der der jüngsten Vergangenheit, wieder mehr vertraut zu machen und mich vorzubereiten, in den uns bevorstehenden Kämpfen auch kräftig mitzuwirken, was doch die Pflicht jedes Staatsbürgers, und grade bei uns, wo so viel Schlaffheit u. Indolenz herrscht, doppelt nöthig ist. So lange ich noch keinen festen Standpunkt habe, werde ich mich allerdings passiv verhalten und die Zeit umso mehr benutzen, mich allseitig zu orientiren. Die Nationalzeitung, welche Karl hier neben der Volkszeitung hält, gefällt mir sehr gut und ist, wenn auch nicht mit dem warmen Eifer und der populären Kernhaftigkeit der letztern, doch mit viel mehr Umsicht und schärferm Verstand redigirt.

Ich bin sehr neugierig, was der Nationalverein in Coburg beschließen wird, wozu die Stettiner sehr treffliche Anträge gestellt haben. – Grüße Mutter u. Hermine Berken sehr. Daß Du letztere bei Dir hast, freut mich sehr für Euch Beide u. wird Dir gewiß den Heringsdorfer Aufenthalt doppelt angenehm machen.

Vor allem schaffe Dir aber schleunigst die dummen Furunceln ab, damit Du tüchtig baden kannst. Nimm Dich aber vor Erkältung sehr in Acht, was bei dem rauhen, kalten Wetter doppelt nöthig ist. Und gönne Dir möglichst Ruhe. Kömmt erst Dein unruhiger Geist, wirst Du noch Bewegung genug haben. Mit innigstem Gruß und Kuß Dein treuer Erni.

a gestr.: Er; b gestr.: , c eingef.: an; d gestr.: für; e gestr.: An ihn; f korr. aus: Specialfachwissenschaft; g irrtüml.: ist; h gestr.: entschä

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
20.08.1860
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38317
ID
38317