Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Freienwalde, 16. Juli 1860

Freienwalde 16/7. 60.

Hab innigen Dank, bester Schatz, für Deinen lieben, letzten Brief, der grade zu rechter Zeit kam, um mich etwas von der entsetzlich düstern und melancholischen Stimmung zu befreien, die mich schon viele Tage jetzt so befangen hatte, daß ich zu gar keinem frohen Gedanken mehr kam. An solch bösen Tagen ist ein Brief von Dir die beste Medicin und Du glaubst kauma, wie Du in dieser Beziehung schon auf mich wirken kannst, und wie Dein immer frischer und jugendlich heiterer Sinn die Unmuthswolken verscheucht, die nur zu gern mich ganz bedecken. Du kannst kaum denken, wie düster und schwarz ich die letzten Wochen gestimmt war, und wie ich mich nach Dir sehne, um wieder zu Lebensmuth, Jugendfrische und voller Arbeitskraft zu kommen. Wenn ich Deine Briefe nicht hätte, die ich jetzt, auch die alten, immer und immer wieder lese, ich glaube ich würde jetzt zu gar Nichts Muth, Lust und Kraft haben. Aber ganz werde ich doch erst wieder frisch, wenn ich Dich wieder habe und von meinen süßen Lippen, meinem besten Lebensquell, mir all den guten Muth holen kann, der mir von Natur abgeht. Ich sehne mich so nach Dir, liebste Änni, daß ich kaum die Zeit Deiner Rückkehr erwarten kann. Freienwalde hat durch seine liebliche, grüne Natur, in der ich Dich auf Schritt und Tritt vermisse und zu mir herwünsche, die Sehnsucht, die schon in Berlin so mächtig war, ungemein verstärkt und die Zeit unserer Trennung will mir unendlich länger erscheinen, als sie es in der That ist. Komm nur ja möglichst bald; ich kann dann gewiß nachher noch einmal so gut arbeiten, als jetzt, wo die Änni mir immer über das Papier läuft, und wo, wenn ich früh an das Taufen meiner Radiolarien gehe, ich aus jeder Gattung eine Art – Annae taufen möchte.

Wie schön macht sich auch z. B. das „Actinomma Annae“: „Annas Strahlenauge!“ Wird denn Dein Auge auch wirklich strahlen, wenn es hier mit mir zusammen den herrlichen Wald ansieht, dessen gemeinsamen Genuß wir so lange entbehrt haben? Mein ermattetes Auge fängt schon in der bloßen Vorfreude an zu leuchten! ||

Ich kann Dir nicht sagen, wie ich mich darauf freue, wieder mit Dir frei und frisch unter den grünen Bäumen zu wandern, wo ich schon eine Menge reizender Plätzchen im grünen Moos für uns ausgesucht habe. Gestern Morgen, in aller Sonntagsfrühe, habe ich da mit Deinem Briefe in der Hand und im Herzen ein paar Stunden unter einer herrlichen alten Buche gelegen und durch die Zweige in den blauen Himmel geschaut, wo ich überall mein treues Auge wiederfand. Wie wird das nur in 3 Wochen sein! dachte ich und dabei fing das Herz an so gewaltig zu pochen und sich ungeduldig zu gebärden, daß ich das dumme Ding kaum besänftigen konnte. Heut sind es nun schon keine 20 Tage mehr, liebster Schatz, denn ich hoffe bestimmt, daß Du spätestens Sonnabend den a 4 August her kömmst. Wenn Mimmi auch erst 1 oder 2 Tage später von Potsdam zurückkömmt, so kannst Du ja doch vorher herkommen und sie dann mit hier empfangen helfen. Wir müssen diese köstliche Zeit hier um so mehr genießen, als es mir in der That sehr zweifelhaft ist, ob ich im September nach Heringsdorf kommen kann, wenn ich den Winter noch nach Jena gehen soll. Doch glaube ich kaum, daß ich das Letztere werde möglich machen können. –

Von meinem hiesigen Leben kann ich Dir eigentlich sehr wenig erzählen, liebster Schatz, da eine Stunde und ein Tag so einförmig wie der andre verfließt. Mit den Geschwistern und den Kindern bin ich nur in den 3 Mahlzeitsperioden, zum Frühstück, Mittagessen und Abendbrod, zusammen; die übrige Zeit stecke ich ganz abgeschlossen in meinem Stübchen, unten parterre (wenn man hereinkömmt, die Thüre rechts) und brüte über meinen Radiolarien, wobei freilich gar manche Viertelstunden nur der Körper anwesend ist, wobei der Geist in Ems spaziren geht. Die Arbeit ist übrigens reizend und macht mir immer neue Freude, es könnte gewiß grade für mich jetzt keine passendere geben. Wenn nur das dumme Herz mit seinen ungeheuren Forderungen nicht immer allen Verstand übertönte und mit aller Hartnäckigkeit behauptete, daß das Alles jetzt doch Nichts werth sei, da das Beste fehle, und daß die ganze Arbeit erst gut werden würde, wenn seine Ansprüche auch befriedigt seien. ||

Das Zusammenleben mit den Geschwistern in den arbeitsfreien Pausen ist sehr nett und die Kinder machen uns vielen Spaß. Vor allen ist Hermännchen reizend, immer dasselbe sinnige, still träumerische, freundliche Kind. Dein kleines Pathchen ist sehr drollig und munter, ein dick ausgepolsterter kleiner Cadaver, von dem Du Dir schon ein gut Stück Gesundheit könntest abgeben lassen. Aber in Bezug auf ihren Habitus als deutsches Mädchen macht sie ihrer Pathentante keine Ehre. Während alle drei Jungens echt deutschen, hell blonden Typus zeigen, ist die kleine Anna in Farbe der Haare, Augen und Haut so dunkel und brünett, daß sie ganz wie eine kleine Italänerin aussieht, weßhalb ich sie auch immer „Romagnola“ oder „Concetta“ rufe, wie die Tochter meiner Wirthin in Rom hieß.

Das glückliche Zusammenleben und die ganze nette Häuslichkeit von Carl und Hermine macht mir auch viel Freude und ich muß dann immer denken, wie überglücklich erst ihre beiden jüngern Geschwister sein werden, wenn die so weit sind. Oder glaubst Du nicht, daß die noch ein gut Theil glücklicher werden sein? Freilich regt sich bei diesen Gedanken auch immer die Ungeduld, daß es noch nicht so weit ist, aufs Neue und ich muß immer denken, wie viele Tage mir noch einsam und öde vergehen werden, ehe ich meinen besten Schatz heimführen darf. Ach, Liebchen, wie köstlich wird das erst sein, wenn wir erst ganz zusammen sind und die ewige Unruhe und das ungestillte Sehnen aufhören, die uns jetzt in beständiger Getheiltheit unser halbes Dasein bitter empfinden lassen. Ich bilde mir immer ein, daß ich dann erst zu rechtem Leben und voller Thätigkeit erwachen werde und daß dann all der böse Geist des Unmuths und des Zweifels, des Zwiespalts und Kleinmuths für immer werden vertrieben werden. Wie schön, daß Du von all den guten Seiten, die mir leider abgehen, so viel abgeben kannst, daß ich hoffen darf, Dir in dieser Beziehung ähnlich zu werden! Werden wir nicht überhaupt immer mehr lernen, all unsere guten Eigenschaften gegenseitig auszutauschen und die schlechten zu verwischen und immer mehr verschwinden zu lassen. ||

Ich denke mir immer, daß diese gegenseitige Einwirkung und Veredlung eine der schönsten Seiten einer wahrhaft glücklichen Ehe sein muß und glaube, daß wir Beide hinreichenden Grund haben, dies von der unsrigen erwarten zu dürfen. Wenn ich dagegen so vielfach im Leben grade das entgegengesetzte Resultat sehe, und nichts als Unfrieden, Ungleichheit und Mißverständniß, so jubelt doppelt das Bewußtsein in mir, daß so etwas bei uns gewiß nie vorkommen wird, und daß gewiß unser künftiges inniges Zusammenleben nur dazu dienen wird, unsere guten Anlagen zu erwecken und unser Streben zu veredeln. Liebster Schatz, ich kann mir diese Zukunft gar nicht schön genug denken und muß mich jetzt, wo ich Dich so sehr entbehre, Tag und Nacht damit beschäftigen. Wenn doch nur bald, bald die ersehnte Erfüllung käme. Gar oft ist mirs zu Muthe, als könnte es gar nicht mehr so sehr lange dauern; aber freilich was das dumme Herz wünscht, das glaubt es auch. Gut wäre es aber für uns beide, körperlich und geistig, wenn wir nicht mehr zu lange zu warten hätten. Ich glaube, Du wirst auch erst ganz frisch und gesund werden, wenn Du immer bei mir sein darfst. Daß meine Gedanken dabei natürlich immer am meisten auf Jena schauen, kannst Du Dir denken und nach dem letzten Besuche gebe ich mich ihren Hoffnungen mit doppelter Liebe hin. Ach Schatzchen, ich hab Dir noch so viel zu erzählen. Komm nur recht bald, ehe ich das Beste vielleicht vergesse! –

Nach Ems werde ich nun nicht mehr schreiben und den nächsten Brief nach Bochum an Berkens adressiren. Wenn es Dir irgend möglich ist, suche doch ja in Bonn Schultzes auf, bei denen ich Dich schon angemeldet habe. Es wird Dich sehr freuen, sie kennen zu lernen.

Vielleicht kannst Du auch die arme, unglückliche Lachmann sehen und ihr etwas Trost und Lebensmuth einsprechen. Ich wüßte freilich keinen für solchen entsetzlichen Fall! Laß Dir doch genau über Lachmanns letzte Zeit erzählen. Mir liegt die Geschichte noch viel, viel im Kopfe und es ist mir immer, als müßte ich Dich jetzt doppelt fest und innig b umfaßt halten. Ich strenge vergebens meine Gedanken an, das Trostlose eines solchen Schicksals mit irgend einem Gedanken der Versöhnung ertragen zu lernen. – Grüße mir Bleeks in Bonn recht herzlich, ebenso Schultzes und sei aufs innigste geküßt von Deinem treuen Erni, der sich ganz unbändig auf Dich freut. –

c Frage doch Max Schultze, ob Dr. Krohn ihm Nichts für mich gegeben hat und ob er meinen Brief bekommen.

d Übermorgen, wenn Du diesen Brief erhältst, ist der Jahrestag unsrer nächtlichen Vesuversteigung. Da wird Allmers gewiß sehr viel her denken! – Da ist es Dir jetzt doch besser, nicht wahr? –

a gestr.: 2; b gestr.: ha; c weiter am Rand v. S. 4: Frage doch Max… meinen Brief bekommen.; d weiter am Rand v. S. 1: Übermorgen, wenn Du…besser, nicht wahr? –

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
16.07.1860
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38311
ID
38311