Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Neapel, 16. Juli 1859

Neapel. 16. 7. 59.

Nochmals erhältst Du einen Gruß aus Neapel, mein liebster Herzensschatz, aus dem Du mich gewiß schon lange entfernt glaubst. Das soll aber auch der letzte sein, denn morgen wollen wir endlich wirklich fort. Die Gesellschaft des lieben Freundes, mit dessen echt norddeutschem Kernwesen ich immer mehr verwachse, und die Schätze des Museo Borbonico, besonders die wunderbar schönen Pompejanischen Wandgemälde, deren unbeschreiblich reizende Köpfe und Gestalten wir täglich mit neuem Genuß und Nutzen in uns aufgenomen und immer tiefer eingeprägt haben, sind Schuld, daß Du diesen Brief nicht schon, wie Anfangs Plan war, aus Capri erhältst. Das verhaßte widerwärtige Neapel mit seinem abscheulichen Vieh Volk („Menschen“ – wäre wirklich ein zu euphemistischer Ausdruck – jede Art Bestien ist 100 mal besser und moralischer) ist mir durch Allmers Gesellschaft nicht nur erträglich geworden, sondern er hat mich auch auf Vieles Schöne noch aufmerksam gemacht, was ich vorher, in meinem Widerwillen gegen den hiesigen Aufenthalt übersehen hatte, so wie ich ihn andererseits zu vielen Naturgenüssen habe führen können, die gewöhnlichen Touristen unbekannt bleiben. So haben wir beide durch unsere gegenseitige Ergänzung sehr gewonnen und die 4 Wochen, die ich jetzt mit ihm zusammen hier als „Pittore“ verlebte, sind mir lieber, als die ganzen traurigen 3 Monat vorher. So ein dilettirendes Künstlerleben ist wirklich reizend, allerdings auch wohl nirgends reizender als grade in Italien, vor allem Florenz, Rom, Neapel, und ich bedaure nur zweierlei dabei, erstens daß ich Allmers nicht schon früher in Rom getroffen und zweitens, daß nicht auch Du, bestes Liebchen, daran Theil nehmen kannst. Wie viel Du übrigens in unsern Gesprächen figurirst, kannst Du kaum denken; ich meine die Ohren müßten Dir beständig klingen, mir a ist es, als hätte ich Dich noch viel viel lieber, obwohl das eigentlich nicht möglich ist – seit ich den lieben Freund habe, mit dem ich über Alles, auch über Dich liebstes Herz mich aussprechen kann. || Unser Santa Lucia Leben der letzten 3 Wochen war so deutsch-gemüthlich, als es in Neapel nur irgend möglich ist. Das Erste nach dem Aufstehen war ein gemeinsames Seebad, das nach den heißen Nächten köstlich erfrischend wirkt. Da wir uns dabei immer ein gut Stück über den Molo hinausfahren lassen, haben wir dabei zugleich die schönste Aussicht, Vesuv, Golf, Stadt, Santa Lucia, Santa Elmo, Castel Novo, Capri, Sorrentiner Küste in einem weiten, prächtigen formenreichen Kreis. Dann folgt ein höchst gemüthliches deutsches Kaffeefrühstück auf meinem Zimmer, welches das größte von allen hier oben ist. Dann, wenn keine weitere Excursion gemacht wird, wandern wird mit unserm Zeichenbuch ins Museo und schwelgen selig in der göttlichen griechischen Antike. Um 2 Uhr kommen wir wieder nach Haus, worauf das simple, echt neapolitanische Mittagessen – Maccaroni, gebackene Fische, Melonen (eine große Melone kostet 2–3 grani d. h. ½–1 Sgr!!) sehr vorzüglich an meinem Tisch eingenommen wird, meist noch in Gesellschaft unserer beiden Stubennachbarn v. Both und Lau. Dann plaudern wir meist noch 1 Stunde oder ich lege meine Pflanzen um, wobei mir der liebe Allmers oft erzählt oder von seinen netten Gedichten vorliest. Um 5 Uhr gehen wir meist wieder aus, in die Villa reale oder noch etwas zeichnen. Wird es dunkel, so ergötzen wir uns von unserm Fenster aus an der prächtigen Illumination, die der Vesuv, die langen Lampenreihen der Austernverkäufer, die 1000 Flämmchen von Stadt und Hafen, endlich das köstliche Seeleuchten allabendlich uns zurüsten. Dann folgt um 9 oder 10 Uhr dieb köstlichste Erquickungc des Tages, nämlich ein Seebad mit Meeresleuchten. Dir dieses überaus prachtvolle Schauspiel zu schildern, ist meine Feder völlig unzureichend; ich kann Dir nur sagen daß der smaragdgrüne Feuerglanz, in dem wir da wie Tritonen herumpatschen – bei jeder Bewegung fahren Tausende glänzender Funken und Lichtkugeln nach allen Richtungen auseinander, – alle Vorstellungen übertrifft, die ich mir jemals von Seeleuchten habe machen können. Leider ist der Raum schon wieder alle und Dr. Halbertsma, ein sehr netter Holländer, der mir den Brief mitnehmen will, ist reisefertig. Ich versuche einmal, ob 3 halbe Bogen auf halben Brief gehen; schreib mir ja, ob es doppeltes Porto gekostet hat. ||

Herzlichen Gruß an alle Bonner. Schicke den Brief bald an die Alten, liebstes Herz. Adieu Dein E.d

[Adressen]

Fräulein Anna Sethe | p. Adr. Frau Professor Bleek | Bonn (an Rhin) | (Prusse)

adr. Herrn Oberregierungsrath Häckel | Berlin | Wilhelmstr. 73.

a gestr.: hätten; b korr. aus: das; c eingef.: Erquickung; d Text weiter am oberen Rand von S. 1: Herzlichen Gruß … Dein E.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
16.07.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38277
ID
38277