Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Neapel, 23. Mai 1859, mit Beilage 2. Vesuvexkursion vom 20. Mai 1859

Neapel, 23.5.59.

Heut Abend erhielt ich Deinen lieben, lieben Brief vom 14.5. mein liebster Schatz. Hab schönsten Dank und einen innigen Kuß dafür. Dann mußt Du aber gleich Schelte dafür haben, daß Du mir Deinen Hals nicht mehr in Ordnung hältst. Wie kann sich das böse Ding herausnehmen, in Abwesenheit seines Doctors krank zu werden! Das ist überhaupt nicht erlaubt, jetzt aber erst recht gar nicht. Schaffe also den bösen Katarrh schleunigst ab und mache, daß Du wieder ganz mein lieber gesunder, munterer Schatz bist.

Das mußt Du mir aber versprechen, daß Du Dich ordentlich in Acht nimmst, und nicht so leichtsinnig mit Deiner Gesundheit umgehst, wie Du es wohl zuweilen zu thun pflegst. Besonders hüte Dich in der Kühle der Abendluft. Die feuchte Niederung von Freienwalde köpnnte Dir da leicht noch einen stärkeren Katarrh anhängen. Gelt, lieber Schatz, mir zu Lieb nimmst Du Dich einmal ein Weilchen ordentlich in Acht und sorgst mit Aufmerksamkeit für Dein Körperchen; denke nur daran, daß Du ihn für mich frisch und gesund erhalten mußt. Hoffentlich meldet mir Dein nächster Brief, daß das Halschen wieder ganz in Ordnung und der böse Husten verschwinden ist. Daß es Dir sonst in Freienwalde so gefällt, freut mich recht sehr und ich begleite Dich oft in Gedanken auf den reizenden Spaziergängen, die wir im Juli des vorigen Jahres dort zusammen machten. Könnt ich nur einmal wöchentlich wieder so ein selig Stündchen mit Dir verleben! Grüß mir das Hammertal recht vielmals und den reizenden Pittgrund. Wie einfach und gleichförmig auch die dortige, wie so viele andere unserer norddeutschen Landschaften sein mögen, sie haben doch ihre eigenen, sehr großen Reize, die der berühmten italienischen Landschaft fast ganz abgehen. Dahin gehört vor allem das Element, welches für uns beide recht besonderes Interesse hat, das Wasser und der Wald. Abgesehen natürlich vom Meer, das ja grade hier in Neapel durch seinen Farbenglanz und die malerische, phantastische Küstengestaltung so reizend erscheint, fehlt das Wasser in der hiesigen Landschaft gänzlich. Ich habe während der ganzen Zeit meines bisherigen Aufenthalts, in dem ich doch schon ziemlich umhergestrichen bin, noch nicht einen einzigen Bach, geschweige denn Fluß oder Strom gesehen. Die starken atmosphärischen Niederschläge, die dicken Regenströme und der starke Thau müssen den absoluten Mangel des fließenden Wassers ersetzen. Doch bleibt das Land trotzdem immer trocken und staubig, was bei großer Sonnenhitze besonders unerträglich wird. a Nicht weniger, als der schöne, frische Quellenreichthum unseres Nordens wird hier der reiche Schmuck unserer frischgrünen Wälder vermißt, für den die Orangenhaine und die traurig silbergrünen Olivenpflanzungen nur ein schwacher, trauriger Ersatz sind. Nein, es lebe Deutschland! ||

Deinen vorletzten Brief, liebster Schatz, der am 7.5. abgeschickt war (der erste aus Freienwalde) erhielt ich erst am 18.5. Er ist mithin 11 Tage gegangen und zwar, weil ihn der dumme Postsecretär, trotzdem ausdrücklich via Marseille darauf stand, den Landweg über Rom geschickt hatte. Trotzdem franco fina Napoli darauf stand, kostete er noch etwa 20 Sgr. Frankire also lieber nicht mehr, unterstreiche dick: über Marseille und schärfe es dem Postsecretär genau ein. || Heut nur noch einen herzlichen Gruß und Kuß, liebster Schatz.

Du erkundigst Dich nach meinen Patienten. Acton habe ich mit Chinin curirt. Frau Blöst ist immer noch krank, doch entschieden auf der Besserung. Es war eine sehr schwere Gehirnentzündung. Den inliegenden Brief an Tante Bertha schicke direct an sie. Den Brief an Martens lege an die Eltern ein.

Grüß mir Karl, Mimmi und die Kinder herzlichst und schreib recht bald wieder

Deinem treuer Erni.

[Beilage]

Freitag. 20.5.59. Zweite Vesuv-Excursion. Ich ging diesmal ganz allein, fuhr um 5 Uhr auf der Eisenbahn nach Portici und stieg dann über Resina zwischen den Mauern der Fruchtfelder und Orangengärten empor. Die Lava war seit meinem ersten Besuch (vor 4 Wochen) etwa eine ¼ Stunde weiter heruntergerückt und hatte die in Schlangenwindungen aufsteigende schöne neue Straße an 4 Stellen überflossen und unterbrochen. Die Villa Fiorillo, bei der damals der Lavastrom zum erstenmal die Chaussee kreuzte, lag schon tief darin begraben, die damals blühenden Obstgärten und Weinberge waren mit der undurchdringlich festen schwarzen Decke verhüllt. Zufällig traf ich ein paar Träger, die zum Kegel heraufstiegen und deren Schritten folgend ich glücklich über das unterste Ende des Lavastroms hinwegstieg, aus dem überall kleine glühende Bäche hervorquollen und die vorliegende Pflanzung anzündeten. Die Stücke, auf denen ich den Übergang suchen mußte, waren noch ganz heiß, dampften mächtig, und ½' darunter, oft auch rings von allen Seiten, schoben sich die glühendflüssigen Massen über und durcheinander hervor. Und auf der Höhe der Bank stand ein mächtiger ausgehöhlter Lavablock, aus dessen innern cascaden gleich, ein Feuerstrom vor kam und sich über eine steile Böschung etwa 30' Fuß hoch herabwälzte. Die eigenthümliche Bewegung der dickflüssigen breiartigen Kieselverbindungen ließ sich hier schön in der nächsten Nähe beobachten. Da die Reibung an den unebenen, einschließenden Wänden sehr stark ist, so fließen die beiden Seitentheile des Stroms viel langsamer als die Mitte und so entstehen die strickförmigen, nach innen convex vorgewölbten Linien auf der Oberfläche, die rasch erstarrt, während die Masse zunächst darunter noch lange flüssig bleibt. Diese concentrischen Liniensysteme erinnern ganz an die sogenannten Gufferlinien der Gletscher, ebenfalls nach vorn vorgewölbte erhabene Krümmungen der Gletscheroberfläche, die auch der gleichen Ursache, dem rascheren Fluß der Mitte, ihre Entstehung verdanken. Überhaupt fiel mir heute wieder mehrfach die Analogie zwischen manchen charakteristischen Bildungen der Lavaströme und der Gletscher auf. Nur ist natürlich die Schnelligkeit der Bewegung bei ersteren viel, viel bedeutender, da die Masse viel dünnflüssiger ist als das Gletschereis, dessen Körner viel inniger zusammenhängen und sich schwerer verschieben. Die Fortbewegung in dem selbstgegrabenen Bett hat abr viel ähnliches. Besonders muß dies bei einem großen breiten Lavastrom der Fall sein, der, wie es bei den meisten Eruptionen der Fall ist, gleich nach dem Ausfließen erstarrt. Der Lavastrom, dessen Fluß noch gegenwärtig || fortdauert, unterscheidet sich aber darin merkwürdig von allen andern, frühern, daß er gleichsam chronisch ist, während jene alle mehr oder weniger chronisch waren. 11 Monate fließt nun bereits ununterbrochen Lava aus und hat bereits eine ungeheure Schlucht an der Westseite völlig ausgefüllt. Während die feuerflüssigen Silikate sonst aus einer einzigen großen Auswurfsöffnung in dickem Strom hervorquellen, findet hier umgekehrt der Ausfluß aus vielen 1000 kleinen Öffnungen statt, deren Lage man unter den hoch darüber aufgethürmten, schon erstarrten Massen nicht mehr angeben kann. Der ganze Boden darunter muß trichterförmig durchlöchert und die ganze erstarrte Masse von einem glühendflüssigen Adernetz durchzogen sein. Oben, untern, an den Seiten, überall, wo sie sich zufällig Bahn brechen, dringen Hunderte von kleinen Feuerquellen hervor und verändern die Bodenformation wesentlich auch noch da, wo man sie schon längst fixirt glaubte. Ich sah heute den Ausfluß aus mehreren kleinen Mündungen ebenso reichlich und lebhaft an einer schon ½ Stunde höher gelegenen, größtentheils schon erstarrten Decke, wie an dem jüngsten untersten Theile, der sich noch mit relativer Schnelligkeit verschob. Über einen stark geneigten kleinen Abhang des letzteren floß die Lava am Abend, wo ich über 2 Stunden dabei stand, gegen 4 Fuß weit vor. Meist geht es aber viel langsamer. Nachdem ich die erste, unterste Lavamasse passirt hatte, mußte ich noch über 3 andere wegklettern, die die Straße neuerdings wieder überschritten hatten, ehe ich auf die alten Laven kam, auf denen man zum Osservatorio emporsteigt. Da die Morgennebel sich noch nicht ganz niedergeschlagen hatten, blieb ich hier, bei dem etwas oberhalb gelegenen Kreutz sitzen und machte eine Aquarellskizze von dem prächtigen Bild, in dem der Golf von Neapel hier in prächtiger Rundung vorlag. Um Mittag wollte ich endlich zum Kegel selbst aufsteigen; da sich jedoch eine dichte Wolke unbeweglich um sein Haupt gelagert hatte und auch weiterhin die Berge von Sorrent und die Inseln im Nebel noch verhüllt waren, so wäre die Aussicht heut nicht lohnend gewesen, weshalb ich nur bis in den Sattel zwischen Somma und eigentlichem Vesuv hineinstieg und am Fuß des c eigentlichen Aschenkegels, im Atrio dei cavalli sitzend, eine Skizze von dem außerordentlich wilden, zerrissenen, nackten Felsformen entwarf, in denen der Kamm der Somma fast in Form eines Amphitheaters sich um das Atrio rings umher zieht. Gegen Abend kletterte ich noch auf den alten, vielfach durcheinander gemengten Laven umher, welche den Boden dieses Sattels erfüllten und die größte Fülle von abenteuerlich und phantastisch geformten Schlacken-Laven darbieten. || Der Abend auf dem Vesuv war noch sehr schön. Die Inseln und der Posilip erschienen gegen Sonnenuntergang im herrlichsten Blaulicht. Ich eilte rasch vom Observatorium über die Lavafelder hinunter, um noch vor Dunkelwerden wieder auf festem Boden, d.h. jenseits der letzten, noch feuerflüssigen Strecke zu sein, kam aber kaum noch vor Toresschluß hinüber. Ich mußte lange probiren, ehe ich für die letzte Strecke, zwischen den hervor quellenden Feuerbächen hindurch, einen sichern Pfad gefunden hatte und hätte mir doch beinah zu guter letzt noch die Sohlen verbrannt. Meine schweren dicksohligen und eisenbeschlagenen Alpenschuhe leisteten mir dabei wieder die trefflichsten Dienste. Das herrlichste Schauspiel wartete aber meiner noch, als es ganz dunkel wurde; ich glaubte mich wirklich in ein orientalisches Märchen versetzt. Die rothen Feuerströme, die zu Hunderten aus den Flanken des Bergs hervor quollen, erschienen in der schwarzen mondlosen Nacht überaus herrlich und lieferten ein Schauspiel, das seinesgleichen suchte und das sich die lebhafteste Phantasie kaum prächtiger vorstellen kann.

Besonders herrlich erschienen die kleinen Feuerquellen in unserer nächsten Nähe, an die ich bis auf 2' Entfernung heraufkletterte, und so die interessanten Bewegungserscheinungen in nächster Nähe beobachten konnte. Sehr interessant war das Fortwälzen des äußersten Vordertheils des Stroms, der, wenn er an einem kleinen Absturz, oder einer steilen Lavaklippe angelangt war, abbrach und wie ein rother Goldklumpen halb fließend halb rollend ein paar Schritt weiter hinunter fiel. Das Schauspiel war so überaus herrlich, so reich an immer neuen und wechselnden prachtvollen Scenen, daß ich über 2 Stunden dort verweilte. Erst um 9½ Uhr schickte [ich] mich an, noch die 3 Stunden nach Neapel zu Fuß zu laufen. Da führte ein glückliches Ungefähr 4 deutsche Damen (2 aus Berlin und 2 aus Dresden) herbei, welche b in einem Wagen heraus gefahren waren, um das Glühen der Lava zu sehen. Ich hatte sie an unserem Mittagstisch kennengelernt, führte sie nun noch zu den Feuern herauf und sie waren dann so freundlich, mir den Platz neben dem Kutscher auf dem Bock offeriren, was ich mit großem Vergnügen annahm und so noch ziemlich rasch und bequem um 12 Uhr Nachts nach Neapel zurückgelangte, reich beladen mit botanischen Schätzen und den schönsten, unterweltlichen Feuerlandschaftsbildern, von denen ich mir wünschte, daß meine Feder noch einigermaßen ein Bild von ihrer Pracht entwerfen könnte. ||

[Adresse]

Fräulein Anna Sethe | p. Adr. Kreisrichter Haeckel /Freienwalde a.O. | via Berlino/ (Prussia) | vapore diritto Marsiglia.“,

a gestr.: Der reiche; b gestr.: ich; c gestr.: ersten

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
23.05.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38272
ID
38272