Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Neapel, 16. Mai 1859

Neapel 16. 5.59.

Zwar ist heut kein Brief eingetroffen, wie ich bestimmt gehofft hatte, mein liebster Schatz; aber doch will ich Dir heut noch schreiben, damit gleich morgen der directe Dampfer a den Brief nach Marseille mit nimmt, und Du nicht auch vergeblich wartest. Vielleicht ist diese unregelmäßige Besorgung auch schon Folge der Kriegsereignisse und wir werden uns jetzt immer darauf gefaßt halten müssen; ängstige Dich also nicht liebstes Herz wenn Du viel länger auf Nachricht warten mußt. Der österreichisch-französische Krieg und die eventuelle b Stellung, die Preußen dabei einnehmen wird, bilden natürlich auch hier das allgemeine Tagesgespräch und Du kannst denken, wie gern wir mit jeder neuen Post hören, daß noch nicht mobil gemacht ist. Doch ist schon immer diese erwartungsvolle Spannung sehr unangenehm und hat auch in meine Arbeit, die jetzt endlich so ziemlich in Zug gekommen ist, wieder neue Unruhe gebracht. Das wäre wirklich recht fatal, wenn sie dadurch ganz gestört werden sollte; hoffe ich doch durch diese Arbeiten den Grundstein zu unserer ganzen glückseligen Zukunft zu legen, mein herziges Liebchen. Eifer, Unruhe und Ungeduld waren dabei anfangs nur zu groß und Du kannst denken, was für ein mächtiger Sporn mir dieser Gedanke ist. Dies süße Gefühl, für Dich, bestes, liebstes Wesen zu arbeiten, leiht mir bei den mühsamen, schwierigen Untersuchungen eine Ausdauer, Kraft und Geduld, die ich früher nicht kannte, und die ich ohne Dich jetzt hier um so weniger üben würde, als die überall hier so reizende und wundervolle Natur nur zu mächtig ins Freie lockt und vom Arbeitstisch zum dolce far niente verführt. In dieser Beziehung habe ich Neapel als Arbeitsquartier nicht glücklich gewählt; kaum reift wohl irgendwo die Natur so mächtig heraus, als hier; dächte ich daran, hier bloß nach Herzenslust zu bummeln, d.h. zu Fuß die reizende Natur in allen Theilen zu durchstreifen zu botanisiren, zu malen, und natürlich im Verein mit Dir, solchem köstlichsten Naturgenuß mich hingeben zu können, es müßte paradiesisch sein; so kömmt aber immer ein störendes Element in alle diese Anschauungen, die dazu angewandte Zeit dem Hauptzweck zu entziehen und so habe ich hier nie die Ruhe und Unbefangenheit, mit der ich mich anderswo diesem Genuß hingeben würde. Schön war dies z.B. in Rom, wo ich mit voller unbedingter Objectivitaet mich den großen Kunst- und Naturschätzen hingab, immer mit dem Bewußtsein, um ihretwillen da zu sein und mit dem Zweck, sie möglichst gründlich auszukosten. Dies fehlt hier ein für allemal; dafür hoffe ich dann aber auch einige dauernde Trophäen heimzutragen und denke, in dieser Woche endlich einen guten Anfang dafür gemacht zu haben. Die Untersuchungen des ersten [xxx]c || der unbestimmten Erwartung, einen schönen Gegenstand zu entdecken, zu unruhig und das wechselnde, mannichfaltige Material zu verschiedenartig, um mich zu ruhigem, consequentem Fortarbeiten kommen zu lassen; jetzt scheint dies endlich erreicht und ein paar größere Untersuchungsreihen sind angefangen. Überhaupt fange ich auch in andrer Beziehung endlich an, Ruhe und Geduld zu schöpfen und mich den Umständen, die ich doch nicht ändern kann zu akkomodiren; ich tröste mich mitd dem süßen Paradies, das meiner nach der Rückkehr in die in die süße Heimath in den Armen des liebsten, besten Schatzes erwartet. Gewiß, meine Änni, Du denkst nicht, wie segensreich der beständige Gedanke an Dich in dieser Beziehung auf mich einwirkt, wie Du mich besserst, meinem Streben Ausdauer und Bestimmtheit verleihst. Täglich lerne ich dies hohe herrliche Glück mehr zu schätzen und danke dem Schicksal täglich mehr, daß es noch vor Beginn dieser Reise diesen köstlichsten Edelstein Deines treuen, für das Gute, Wahre und Schöne so warm und reich begeisterten Herzens hat finden lassen. Gewiß wirst auch Du noch diese Reise segnen mein liebstes Herz, schon dieser eine Umstand wiegt den bittern Schmerz der langen Trennung wohl auf. Ohne sie wäre ich nicht zu der Ruhe, zu der beseligenden Klarheit über unser ganzes, köstliches Liebesglück gekommen, wie ich jetzt mit jedem Tage mehr dazu gelange. Dabei tritt mir immer wieder das Bild des Meeres, dieses köstlichen Elements, das für uns beide so lieb und wichtig ist, vor die Seele. Wie Du erst nach dem Sturm, wenn der weiße Schaum der tobenden hochaufschlagenden Wellen zerflossen ist, den köstlichen klaren blauen Spiegel in seiner ganzen Pracht schaust, und in dem Spiegel das Bild der reizenden Natur rings umher, auf dem Grunde die prächtigen Kleinodien des Meeres, die wunderbar schön und reich ausgeschmückten Thiere und Pflanzen, – so erkenne ich erst jetzt, nachdem der erste Sturm der im Liebesglück des ersten Findens und gegenseitigen Verstehens hocherregten und leidenschaftlich bewegten Gefühle sich gelegt hat, den köstlichen reichen Schatz, den ich in Deiner tiefen, wahren, edlen Seele gefunden habe. Wie oft und tief ist mir diese köstliche, beseligende Wahrheit besonders in den letzten beiden Wochen vor die Seele getreten, liebster Schatz, wo ich in süßer, freilich durch die Trennung recht wehmüthig gefärbter, Rückerinnerung alle die wundervollen Tage und Stunden wieder vor die Seele gerufen und durchgelebt habe, wo vor nun einem Jahre unsere beiden Seelen sich völlig vereinigten und dem nicht länger zu unterdrückenden Gefühle innigster gegenseitiger Zuneigung Ausdruck gaben, welches durch das lange glückliche, obwohl unbewußte Zusammenleben des ganzen Winters so vorbereitet war, daß es nicht anders kommen konnte.

Einene innigsten Kuß, bester Schatz. Hoffentlich bekomme ich morgen einen Brief von Dir. Schicke das einliegende gleich nach Berlin. Dein Erni.f ||

[Beilage]

Die verflossene Woche verlief wie die vorhergehende; das schlechte Wetter, fast täglich Regen, mit abwechselnden heftigen Winden aus allen Himmelsgegenden, hielt mich immer zu Hause und ich bin in der einen angefangenen Arbeit endlich einmal ein sichtliches Stück vorgerückt, habe aber auch meist von früh 5 – Abends 5 ununterbrochen hinter dem Microscop gesessen. Nur ein paar mal habe ich mich früh durch ein prächtiges kühles Bad am Strand gestärkt. Die pelagische Fischerei war durch das aufgeregte Meer wieder unmöglich gemacht und so hat mich ein Mollusk, die prächtige Thetis, die ganze Woche fast ausschließlich beschäftigt. Nur ein Tag war schön, der letzte Donnerstag (12. 5.) und diesen benutzte ich zu einer sehr interessanten Excursion. Es war dies die erste, die ich hier in Neapel so ganz à mon goût machte, d.h. früh 5 Uhr aufgebrochen, immer zu Fuß gelaufen, nach Herzenslust ganz allein, ohne Weg und Steg herumgestiegen, botanisirt, gemalt und dabei den ganzen Tag nichts, als ein Paar hartgekochte Eier, Apfelsinen und trocken Brod genossen. Nichts gleicht dann dem Vergnügen, wenn ich Abends totmüd nach Haus komme, reich beladen mit botanischen Schätzen und mit der schönen Erinnerung an einen reinen, durch keinen menschlichen Mißton getrübten Naturgenuß. In der Art war die letzte Excursion so recht nach meinem Geschmack.

Ich ging früh 5 Uhr über die Chiaja, den schönen Weg durch die Villa reale und am Strand hin, durch die Grotte des Posilipo, dann rechts ab zwischen hohen Gartenmauern, über die schöne im Frühlingsgrün prangende Bäume wegschauten, nach dem über 2 Stunden entfernten Lago d’Agnano, einem kleinen, in einen waldigen runden Bergkessel (ein alter Krater) eingeschlossenen See, der durch die Hundsgrotte (Grotta del cane), in welcher eine fußhohe Kohlensäureschicht steht, berühmt ist. Ich ging längs dem Ufer rings um den ganzen See herum, dann an dem Astroni, einen großen schönen, jetzt dicht bewaldeten Krater, vorbei, nach der Solfatara, dem berühmten eingestürzten Vulkan, aus dessen hohlklingendem Boden noch jetzt an vielen Stellen heiße, saure Dämpfe emporsteigen. Ich hatte beim Botanisiren den Weg bald verloren und mußte den steilsten Abhang der Kraterwand hinaufklimmen, der aber durch seine mineralogischen Überzüge grade besonders interessant war und auch einige prächtige Blumen aufwies. Als ich den höchsten Punkt erreicht hatte, wurde ich durch eine eben schöne als merkwürdige Aussicht überrascht. Ich stand an dem oberen Rande eines weiten, regelmäßig gerundeten Kraterkessels, dessen Boden fast ganz nackt, nur mit weißen und gelben Sublimationsproducten dicht bedeckt war. Nur ein einigen Stellen der Wände schmückten zahme Kastanienbüsche die verwitterte Lava. Grade zu meinen Füßen quoll unter sausendem Getöse, wie aus dem Schornstein einer großen Dampfmaschine, eine dichte weiße Rauchsäule aus einer Öffnung des Bodens hervor. Ganz schroff stürzten rings die nackten Wände in den Krater hinab. Über diesen öden, wilden, todten Vordergrund hinweg sah man in reizenden Hintergrund. || In prächtiger Rundung zog sich g rechts der weite Bogen des Golfs von Bajae mit seinen malerischen Küstenformen herum, am meisten vorspringend das steile Cap Miseno, dahinter Procida, dann das mächtig gethürmte Ischia. Im Mittelgrund grad gegenüber auf hohem Felsvorsprung Puzzuoli. Nach der andern Seite, nach Osten, ein ganz entgegengesetzter Anblick, der Lago d’Agnano in seinem grünen waldigen Uferkranz, dann die wilden, nackten Felsberge, die sich dahinter bis zu dem hohen Camaldoli hinauf erstrecken. Nahebei mehr rechts der Monte Gauro, links Bagnoli, der Posilip und Nisita. Nachdem ich von der schönen Landschaft eine Aquarellskizze entworfen (die erste aus Neapels Umgegend) und eine prächtige, große, braunrote Orchidee und ein schönes rotgetupftes, gelbes Helianthemum, die den vulcanischen Boden fast ausschließlich bedeckten, gesammelt, auch auf den Felsen und in den Büschen noch umhergestiegen und ein paar andere hübsche Pflänzchen gefunden, stieg ich in den fast ganz ausgebrannten Krater selbst hinab, sah mir das Ausströmen der Dämpfe aus der Bocca ganz in der Nähe an und ging dann quer hindurch, über einen kleinen Hügel hinweg, nach dem wunderschön gelegenen Puzzuoli herab. Hier besah ich zunächst das sehr wohl erhaltene antike Amphitheater, das 30.000 Zuschauer fassen konnte, dann die in antiquarischer und geologischer Beziehung weltberühmten Ruinen des sehr interessanten Serapistempels, an dessen Säulenresten verschiedene, hoch hinaufreichende Überzüge von Süßwasser- und Meeresniederschlägen Kunde von sehr bedeutenden geologischen Veränderungen, wechselnden Hebungen und Senkungen des Bodens, geben, und theilweis steht er noch jetzt im Seewasser. Ich nahm verschiedene Proben der Säulenüberzüge und der Wasserbewohner mit, die durch Ehrenberg erst im letzten Jahr analysirt und ganz aufgeklärt worden sind. Von da stieg ich eine Strecke weit die schöne Via Capuana hinauf, dann wieder zum Meeresstrand hinunter, ging ein Stück nach Bajae zu und machte eine zweite Aquarellskizze von Puzzuoli und Umgebung. Am Strand fand ich hübsche Algen und noch lebend eine der größten Nacktschnecken (Aplysia) ausgeworfen, die mir willkommenes Material für den folgenden Tag lieferte.

Nachdem ich mich durch ein prächtiges Seebad erquickt, ging ich nach 6 Uhr nach Puzzuoli zurück, von wo ich die 2½ Stunden nach Neapel für 2 Sgr. zurückfuhr, nämlich auf dem Deichselsitz einer sogenannten Carottola; zweirädrige, höchst leicht gebaute Einspänner, wie man sie nur hier in Neapel findet. Gewöhnlich sitzen, hocken und stehen 8 – 10 Personen darauf; sie können aber bis 16 aufnehmen, die sich dann an alle Theile des Fuhrwerks, an Deichsel, Tritt, Lehne, Hinterbrett, Netz unter dem Sitz etc. anklammern, höchst komische und charakteristische Genrebilder, wie man sie nirgends so wiederfindet. Halbgerädert von meinem Deichselsitz, aber höchst vergnügt kam ich um 7½ Uhr Abends wohlbehalten in der Santa Lucia wieder an.

[Adresse]

vapore diritto Marsiglia. | Fräulein Anna Sethe. | p. Adr. Herrn Kreisrichter Haeckel | Freienwalde a/O. | via Berlino | (Prussia).

a gestr.: ihn; b gestr.: P; c Papierausriss; d korr. aus: mich; e Papierausriss, Wort sinngemäß ergänzt; f Papierausriss, Wort sinngemäß ergänzt; Text weiter am linken Rand von S. 3: Einen innigsten … Dein Erni.; g gestr.: links

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
16.05.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Freienwalde
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38271
ID
38271