Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Neapel, 3. Mai 1859

Neapel. 3. 5. 59.

Auf langen Regen folgt gewöhnlich um so schönerer Sonnenschein, und so ist es auch hier jetzt der Fall, mein liebster Herzensschatz. Der neue junge Mai scheint alles Unrecht des bösen April wieder gut machen zu wollen, der übrigens selbst in der letzten Woche noch Reue zu empfinden schien und das Verdorbene durch einige herrliche Tage zu ersetzen versuchte.

Ich bin seit Ostern wahrhaft aufgelebt und fange jetzt erst an, gegen alle die wundervollen Schönheiten, die mich rings umgeben, empfänglich zu werden. Wie ihr aus dem letzten Brief gesehen haben werdet, verfloß die Charwoche ebenso düster traurig wie die vorhergehenden, bis endlich am ersten Osterfeiertag die Sonne das herrliche Land und Meer wieder in vollem Glanze zeigte. Wie ich schon vorher erwartet, kam nun auf einmal Alles vorher vermißte zusammen. Die Fischer brachten mir reiches Material, die pelagische Fischerei mit dem feinen Netz lieferte überreiche Ausbeute, dazu lockte die herrliche Frühlingsnatur mächtig ins Freie und die Frühlingsflora, die malerische Landschaft, die meine botanischen und pittoresken Neigungen gleich sehr reizten, ließen mir in der Stube keine Ruhe. So habe ich denn in den letzten Tagen die wundervollen Excursionen auf den Vesuv und nach Capri gemacht, auf denen mir zu dem hohen Glücke reinsten, edelsten Naturgenusses nichts weiter fehlte, als daß Du, mein besseres Ich, ihn theiltest. Besonders auf Capri konnte ich Dich keinen Augenblick vergessen. Auf Schritt und Tritt dachte ich beständig, wie selig Du liebstes Herz sein würdest, wenn Du das mitgenössest und wie Du durch Deine Freude die meinige erst vollkommen machen würdest. Leider reicht heut der Raum nicht mehr hin, um Dir die Reize einzeln zu schildern und ich kann Dir nur im Ganzen sagen, daß Capri wirklich in sich alle Reize vereint, die grade für mich die Natur zum Paradies machen (natürlich nur mit Dir!). Du glaubst nicht, wie wohltuend dieser tiefe Friede, die feierliche Stille der ganzen glücklichen Insel, ihre liebe gute, relativ noch unverdorbene Bevölkerung, die einfache, natürliche Lebensweise und Sitte, die überaus wild romantische Scenerie, mit all den grade entgegengesetzten Eigenschaften Neapels contrastiren. Man glaubt sich wirklich in ein Elysium versetzt. Nicht wenig tragen dazu aber die Eigenschaften bei, die grade die meisten Reisenden abschrecken, sich hier längere Zeit aufzuhalten und die Gott sei Dank dies glückliche Eiland bisher von der verheerenden Touristenüberschwemmung (wenigstens relativ) bewahrt haben; das ist der wilde, unwegsame, rauhe Felscharacter, der keinem Wagen einen Schritt breit Fahrstraße gönnt und selbst Pferde und Maulthiere nur an wenigen Stellen der Insel duldet.

Alles muß zu Fuß erklettert und jede reizende Aussicht im Schweiß des Angesichts erkämpft werden. Das ist jetzt so recht nach meinem Geschmack und ich bin a fest entschlossen, die heißen Monate hier zuzubringen und pelagische Fischerei zu treiben, die gewiß in dem tiefen klaren Meer ringsum sehr ergiebig sein wird. Dazu ist da ein ganz treffliches Hôtel, in dem man für 1 rℓ den Tag Alles in Allem (Pension à la Suisse) hat. Noch viel mehr freue ich mich aber auf die Zeit, wo hier ein junges Professorenehepaar selige wonnevolle Herbstferien verleben wirdb. Was sagst Du dazu, mein Herz? ||

Doch jetzt genug von Neapel, Capri und der herrlichen Natur Süditaliens. Laß mich einen Augenblick ganz in Dein liebes, grünes Zimmerchen mich vertiefen, mein herziger Schatz, wo ich heut vor einem Jahr den wichtigsten, glücklichsten Schritt meines Lebens that. Du kannst denken, meine beste Änni, wie ich mir jetzt täglich und stündlich jede Minute insc Gedächtniß zurückrufe, die mir das vorige Jahr in diesen Tagen brachte und wie selig ich in der Erinnerung aller dieser wonnenvollster Erlebnisse bin. Mir fehlen die Worte, mein innigst geliebtes Bräutchen, um Dir alle die Empfindungen und Gedanken, die besonders in diesen Tagen mich durchwogten, und die jetzt durch die Entbehrung Deiner Nähe einerseits, durch die herrliche Natur, in die ich hier versetzt bin und die ich Dich so gern mitgenießen lassen möchte, andrerseits, nur noch viel verstärkt werden, um Dir alles dies so zu schreiben, wie ich es tief und warm empfinde. Bin ich doch immer ein Stümper in dem Ausdruck meiner Empfindungen gewesen und verstehe ich doch die Form beim Modeln der Gedanken ebenso wenig zu beherrschen, als ich sie im Verkehr mit der sogenannten Gesellschaft in meinem ganzen Äußern zeigen kann. Aber da tröstet mich nur Eins, das aber auch vollkommen, daß ich nämlich weiß, wie Du, bestes Herz, mich kennst, verstehst und liebst. Du weißt vielleicht jetzt noch nicht ganz, wie glücklich, wie selig, wie gut Du mich machst; ich lerne es aber dafür hier täglich tiefer, inniger und wahrer empfinden. Und wäre dies die einzige Frucht der langen, schweren Trennung, ich könnte schon damit zufrieden sein. O lieber Schatz, vergieb mir, wenn ich in der ersten Zeit, nachdem unsere Herzen sich gefunden hatten, Dich oft durch verdriesliche Grillen, durch launischen Zweifel gequält und Deine Freude in Schmerz verwandelt habe. Gewiß das wird nie wiederkehren! Das Glück, das so plötzlich, so unerwartet, so unbewußt mich überrascht hatte, hatte mich betäubt, überwältigt. d Im hochaufschäumenden Wellengang der stürmischen ersten Liebeswogen ließen mich Leidenschaft und Gemüthserregung den herrlichen klaren Edelstein, der im tiefsten Grunde der brausenden wilden See lag, nicht erkennen. Jetzt, wo die lange Trennung, die weite Entfernung, die schmerzliche Entbehrung des Liebsten die schäumenden Wogen geglättet, wo ich den liebsten, werthvollsten Schatz im tiefsten Grund erst recht erkenne und schätzen gelernt habe, jetzt wächst mit jedem Tage das beglückende Bewußtsein, den liebsten, besten Schatz von der Welt für ewig zu besitzen. Gewiß, Änni, wenn je zwei Menschen füreinander geschaffen, im Stande sind sich glücklich zu machen, hier schon ein seliges im reinen Streben nach allem Guten, Wahren und Schönen glücklichstes Leben zu führen, so sind wir beide es, die wir beide durch die innigste Liebe zur Natur, dem Alleinwahren, verbunden, immer nur nach ihr uns bilden wollen. Doch der spärliche Raum geht schon wieder zu Ende. Nur noch 1000, 1000 innigste Grüße und Küsse herzliebste Braut. Bleib recht heiter und frohen guten Muthes; schaut auch jetzt noch keine bestimmte Hoffnungssonne in unsere nächste Zukunft, so habe ich doch den besten Muth. Schon ist ja mehr als ¼ der schweren Trennungszeit überstanden. Hab den schönsten Dank für Deinen so sehr, sehr lieben Brief vom 19, den ich am 27 erhielt und schreib bald wieder

Deinem treuen Erni.

N. B. Dein letzter Brief, der mich in Capri überall hin begleitete, hat nicht wenig dazu beigetragen, mir den Aufenthalt so göttlich zu machen.e

a gestr.: ich; b korr. aus: werden; c korr. aus: das; d gestr.: Ich; e Text weiter am linken Rand von S. 3: N. B. Dein … göttlich zu machen.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
03.05.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38267
ID
38267