Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Capri, 18. August 1859

Capri 18. 8. 59.

Einen recht schönen Abend, mein liebster Herzensschatz und schönsten Dank für Deinen lieben, herzigen Brief vom 7. 8. den ich gestern glücklich erhielt. Den vorletzten, am 2. 8. abgeschickten, erhielt ich erst am 12. Was das hier für eine Freude ist, wenn der Brief aus der Heimath kömmt, und nun gar vom liebsten Schatz, kannst Du Dir kaum denken. Es ist der wahre Festtag der ganzen Woche und schon früh am Nachmittag laufe ich an den Strand hinunter, um aus den Händen des Marinaro, der am Abend die Barka del mercato von Neapel herüberfährt, direct den Brief in Empfang zu nehmen. Dann setz ich mich gleich ans Ufer auf meinen Lieblingsfels, der früh immer mein Badezelt ist, und lese die herzigen Grüße vom süßen Liebchen beim rauschenden Morgenklang und inmitten der allerherrlichsten großartigsten Natur, an der weiter Nichts fehlt, um sie zu einem vollendeten Paradiese zu machen, als grade die Hauptsache, meine Göttin, die doch allem Schönen in Natur und Kunst durch ihre Gegenwart und Theilnahme erst den wahren Glanz und die rechte lebendige Frische geben muß. Ach, Liebchen, was gäbe ich darum, könnt ich Dich nur stundenweis hierhaben. Ganze Abende habe ich jetzt bei dem köstlichen Vollmondschein auf dem Dache des kleinen Paganohauses und auf der wilden Felsengallerie am hohen Meeresstrand unter dem Castiglione gelegen und habe Dich mit allen meinen Sinnen hergesehnt und mit meinem ganzen Herzen hergerufen – aber der Mond hats gehört und die Winde habens fortgetragen – und doch ist keine Änni gekommen! Wie müssen Dir nicht neulich die Ohren geklungen haben, als ich mit dem lieben Norweger so lange und herzlich über Dich gesprochen und ihm so viel von Dir erzählt habe, und er mir von seiner Braut. Vielleicht wird er euch noch in Berlin besuchen, wenn er im October von Paris über Berlin zurückgeht. (Ich werde am 8 oder 9. September von Neapel nach Messina reisen.) ||

Inliegend erhältst Du die ersten Blätter meines Künstlertraums auf Capri, von dem nächstens mehr folgen soll. Wir führen hier wirklich ein wahres Ur-Leben, unbekümmert um Welt und Menschen, Politik und Gesellschaft − bloß der reinen, köstlichen Natur und ihrem malerischen Genusse uns ganz und gar hin gebend. Nie habe ich mit solcher Freude − und auch mit solchem Glück – nach der Natur gezeichnet und gemalt. Zur Arbeit kommt es nur wenig, wie gestern und heute, wo das stürmische Wetter zum Draußenzeichnen ungünstig war und ich in meiner reizenden großen Loggia auf dem großen breiten grünen Tisch mein Laboratorium ausgekramt hatte und microscopirte. Auch wurde mein − leider nur zu − außerordentlicher Naturforscherfleiß (der entschieden unter den Bestrebungen des Landschaftsmalers leidet) belohnt; ich fand in den Algen aus der blauen Grotte und vor den Küstenfelsen, viele schöne Polypen und Moosthierchen und an einem derselben eine ganz interessante Structur. Wie freut es mich, daß Du auch jetzt so schöne Naturgenüsse an dem lieben alten Rhein hast! Dein herrliches Vaterland soll Dir doch wohlgefallen, Du mein lieb klein rheinisch Mädchen! Grüß ihn recht von mir und erzähl ihm, daß wir ihn beide bald einmal zusammen besuchen wollen. Sehr leid thut es mir aber, daß die schöne Freude durch den bösen Finger so gemindert worden ist; schilt ihn recht aus und sag ihm, daß ich das gar nicht erlaubte und daß er sich schleunigst bessern solle. Hoffentlich ist er jetzt aber schon wieder ganz vernünftig, wie mein ganzes Schatzchen.

− Wenn Du nun einen Brief später als den 29 August abschickst lieb Herz, so adressire ihn nicht mehr nach Neapel, sondern

Al Sgr. Dottore E. H. di Berlino, p. Adr. Sgre. Mueller Hôtel du Nord – Messina (Sicile) und schreibe oben über die Adresse a unterstrichen via Marseille.

Bleib recht frisch und munter, lieber Herzensschatz, genieße die schöne Reise recht, grüß Mutter und die Verwandten und nimm 1000 Grüße und Küsse von Deinem treuen Erni −

[Beilage]

Capri 16. 8. 59.

Die erste Hälfte des August ist schon vorüber und noch habe ich trotz aller Muße keine Zeit gefunden, euch Lieben das Glück meines hiesigen Aufenthaltes zu schildern. So nimmt die überschwengliche Naturwonne und die künstlerischeb Beschäftigung, welche sie mit Pinsel, Farbe und Bleistift für alle übrige Lebenszeit festzuhalten und zu fixiren sucht, hier jeden Moment der nur zu rasch verfliegenden Zeit in Anspruch. Ich wünschte nur, ich könnte euch Lieben Alle einmal auf ein paar Tage herzaubern, um mit mir zu genießen und glücklich zu sein. Wie gern wollte ich auf den größeren Theil des Genusses verzichten, könnte ich dafür den kleineren mit euch theilen. Die mitgebrachten Aquarelle werden euch doch immer nur einen schwachen, schattenhaften Begriff von dieser Fülle und Pracht der Form und Farbe geben können, mit der Mutter Natur ihren Lieblingsfelsen Capri ausgestattet hat. Nun hat aber auch der begünstigende Zufall hier jetzt Alles zusammengeführt, um mir den August auf Capri zu einem künstlerischen Naturgenußleben edelster Art zusammen zu weben, welches unter der Überschrift „Künstlertraum“ eines der reizendsten, liebsten Blätter in meiner Lebensgeschichte einnehmen wird. Ich bin wirklich gespannt, wie mir nach diesem Stückchen Malerleben das ernste Naturforscherleben in Messina schmecken wird. Ich fürchte anfangs nicht allzu gut; denn dieserc olympische Capriaufenthalt ist gar zu heiter und froh, als daß man ihn so rasch wieder vergessen könnte. Unangenehm und ungemüthlich waren hier nur die ersten Tage, wo ich versuchte, meinen ursprünglichen Plan, hier einen Monat ausschließlich mit microscopischen Studien und zoologischen Untersuchungen d zuzubringen, ernstlich durchzuführen. Indeß überzeugte ich mich schon nach wenigen Tagen von der Unmöglichkeit. Vor allen waren die Ergebnisse der pelagischen Fischerei höchst ärmlich und spärlich und von der Unmasse pelagischer Thierformen, mit denen ich die Meeresoberfläche um Capri bevölkert gehofft hatte, fast Nichts zu finden. Es muß dies jedenfalls auf Schuld der ungünstigen Jahreszeit und besonders der subtropischen Hitze zu schieben sein; denn in den kühlern Monaten muß das reine Meereswasser mit seiner bedeutenden Tiefe rings um die felsige Küste und mit günstigen Strömungsverhältnissen sicher von einer großen Menge der schönsten Thierchen wimmeln. ||

So sehr ich anfangs diese neue Täuschung bedauerte, so gewöhnte ich mich doch sehr rasch daran, sie fast als ein Glück anzusehen; denn ich sah bald ein, daß es auch bei Überfluß an interessantem Arbeitsmaterial doch fast unmöglich sein würde, die schönen Arbeitsvorsätze nach dem vorgenommenen Plan e auszuführen, wenigstens für einef Natur, wie ich bin, in der der emsige Ameisenfleiß des Specialforschers noch nicht die übermäßige Freude an dem herrlichen Naturganzen unterdrückt hat. Wer könnte da ruhig und stetig den ganzen Tag hinter dem Mikroscop sitzen und seine Sinne und Gedanken auf die genaueste Betrachtung der kleinsten, wenn auch noch so interessanten Einzelheiten fixiren, wo die entzückende Pracht des Makrokosmos sie mit einer wirklich märchenhaften Fülle davon abzieht! Ich müßte schon ganz ein verknöcherter Gelehrter sein, wenn ich mit ruhigem Gleichmuth alle Tage mein Microscop auf dem großen grünen Tisch in einer offenen Loggia aufstellen und den ganzen Tag aufmerksam dahinter arbeiten und in meinem Laboratorium kramen sollte, wo mir der klarste Himmel, das blaueste Meer, die schönste Palme und die malerischsten Berge lachend in die beiden weiten Bogenfenster der Loggia hinein blicken und mit lauter Stimme: hinaus! hinaus! rufen, so daß ich bei jedem Aufblick vom Mikroscop vom neuen davon überrascht werde. So ist es denn dahin gekommen, daß g die naturwissenschaftliche Arbeit nur von Zeit zu Zeit, und mehr als pikantes Intermezzo in Angriff genommen wird, um dann mit erneutem Jubel wieder in das große prächtige Naturganze hinauszuspringen. So wäre es wohl jedenfalls gekommen, auch wenn ich hier ganz allein geblieben wäre. Nun kommt aber dazu, daß ich im traulichen Verkehr mit der nettesten Künstlergesellschaft lebe und dieses h gemeinsame Natur- und Kunsttreiben hat so viel Anziehendes und für mich Neues, daß ich mich gar nicht davon losreißen mag. Ich bin übrigens nicht der erste, der von diesem herrlichen Leben in der Künstlerkneipe zu Capri halb wider Willen festgehalten wird; die meisten Naturfreunde und Künstler, welche in die Locanda des Pagano kommen, um Capri einige Tage zu schenken, bleiben statt dessen ein paar Wochen oder einen Monat. ||

Will ich nun versuchen, euch ein einigermaßen anschauliches Bild von dem Capri-Mährchen zu entwerfen, so weiß ich kaum, wo ich anfangen soll, so reizend und reich sind alle Seiten desselben. Um es erst im Allgemeinen zu characterisiren, kann ich am besten sagen, daß es zum Theil eine poetische Realisirung jener schönen Träume eines ursprünglichen, halb wilden Naturlebens ist, denen ich von früher Jugend an mit besonderer Vorliebe immer nach gehangen habe. Die Gedanken eines unmittelbaren Hingebens an die reine köstliche Natur, eines harmonischen Zusammenlebens mit ihren einfachen und doch so reichen Stilleben, wie ich sie schon als Kind beim Lesen des Robinson Crusoe empfing, und später nach der Lectüre von Humboldts Naturansichten weiter ausspann, endlich einmal i eine Zeitlang in einem Aufenthalt in einem tropischen Urwald zu verwirklichen hoffte, die ich dann durch meine großen Alpenwanderungen, wenn auch in anderer Weise, zum Theil befriedigte, − finde ich hier in Capri, wieder von einer andern Seite, theilweis verwirklicht. Man könnte Capri wirklich ein kleines Paradies nennen, so rein und unschuldig, so einfach und natürlich, so rein und wahr, stellt sich hier das Menschenleben in der köstlichsten Natur überall dar. Man kann sich auch in dieser Beziehung keinen größern Gegensatz denken als Capri und Neapel und nachdem ich jetzt 4 Monat lang in letzterm den Auswurf der Menschheit von seiner scheußlichsten Seite kennen gelernt, kommt mir die einfache arme Menschenwelt Capris fast wie ein unverdorbnes Urvolk vor. Dank sei den steilen j rauhen Felsen, die wie eine unübersteigliche Mauer das Klippeneiland von allen Seiten umgürten und abschließen, Dank den steilen beschwerlichen, steinigen Treppenpfaden, die den kleinsten Weg nicht ohne mühevolle Anstrengung zurücklegen lassen, Dank der ärmlichen, alles Comforts entbehrenden Lebensweise und der anspruchlosen Einrichtung der nur für die Künstler berechneten kleinen beiden Gasthäuser; − der große, Alles verderbende Schwarm der Touristen und Engländer geht hier noch spurlos vorüber − nachdem sie pflichtmäßig in einer Stunde die blaue Grotte besucht, kehren sie möglichst rasch wieder nach || Neapel zurück und wissen dann von der eigentlichen wunderbaren Naturschönheit des Insel-Kleinods so viel wie vorher; − aber sie können mit beruhigtem Gewissen erzählen und in ihr Tagebuch schreiben, daß sie in der Blauen Grotte gewesen; und doch ist diese nur eine einzige von den vielen 100 großartigsten Naturschönheiten, die hier in wunderbarer Fülle auf kleinstem Raum zusammengedrängt sind. Neapolitaner kommen nun vollends gar nicht her und das ist das größte Glück: diese verworfene elende Menschenrasse hat weder für Kunst, noch für Natur das geringste Interesse − sie leben inmitten ihres Paradieses wie die Blinden; und daß einmal ein echter Neapolitaner, zumal ein sogen. „Gebildeter“ in Pompeji oder Bajä, auf dem Vesuv oder Camaldoli, auf Ischia oder Procida gewesen wäre, gehört zu den größten Seltenheiten. Höchstens fahren sie einmal mit dem Dampfschiff nach Sorrent oder mit der Eisenbahn nach Castellamare, besonders aber nach Caserta, welches langweiligste aller steifen Zopfschlösser für sie die größte Schönheit ist. Nach Capri verliert sich aber nun vollends keiner; das liegt ganz außer ihrem Gesichtskreis − obgleich es ihnen von allen Punkten ihres schönen Golfes aus vor der Nase liegt. So kommt es denn, besonders seitdem ein Dampfschiff die Fremden sehr bequem nach der blauen Grotte und noch am selben Tage nach Neapel zurückbringt, daß fast ausschließlich Maler Capri zu ihrem Aufenthaltsort wählen, die dann alle mit einer von schönen Bildern vollen Mappe und dankbaren frohen Herzen nach längerem Aufenthalt, als sie gewollt, das reizende Eiland wieder verlassen. Als ich ankam (2. 8.) bestanden die Gäste des Hôtel Pagano eben auch nur aus 2 Malern, einem Engländer und einem Portugiesen; dazu kam nach 2 Tagen der überraschende Besuch des lieben prächtigen Norwegers Gjertsen, in dessen liebenswürdiger Gesellschaft ich 2 der schönsten Tage auf der Insel verlebte und als dieser am 8. früh wieder abreiste, kam grade der liebe Allmers aus Sorrent herüber und zufällig trafen gleichzeitig aus Neapel zwei deutschrussische Künstler aus Livland ein. || Wir 4 Künstler also, nämlich Allmers und ich, die mit großem Behagen sich ebenfalls ganz als Künstler geriren, da sie doch nolens volens überall als „artista“ gelten, dann die beiden Livländer, der Bildhauer Alexander v. Bock und der Maler Johannes Köhler, – recht nette, deutschgesinnte Nordländer − sind nun von früh bis zum Abend im nettesten Stillleben, heitersten Naturgenuß und beglückender Malerthätigkeit beisammen − und Meer und Himmel, Berg und Fels, Bäume und Kräuter wetteifern, sich uns in immer neuer und schöner Composition von den verschiedensten Seiten darzustellen und unsern Bleistift und Pinsel in der angenehmsten Weise zu beschäftigen. Ein höhers Interesse und einen wirklich poetischen Glanz erhalten alle die schönen Parthieen besonders noch durch die nicht genug zu schätzende Gesellschaft des lieben Allmers, dessen reicher, vom tiefsten Schönheitsgefühl durchwehter und mit der lebendigsten Auffassung begabter Dichter- und Künstler-Sinn allen Gegenständen die schönste, anmuthigste Seite abzugewinnen und die todten Massen zu den lebendigsten Gestalten umzuformen weiß. Daneben sorgt er durch eine sprudelnde Fülle heiteren Witzes und interessanter Erzählungen, von denen er ganz vollsteckt, auch in den Mußestunden für unsere Unterhaltung, so daß wir fast den ganzen Tag nicht aus dem muntern Gespräch herauskommen. Unser gemeinsamer Lebenslauf beginnt mit sehr frühem Aufstehen, noch bevor die Sonne über den Tiberfelsen heraufsteigt und das alte Castiglione mit dem ersten Rosenschimmer überzieht. Dann steigen wir die steile Treppe nach der grande marina herunter, wo wir in den Morgenfrischen Meereswellen alle Schlafdämmerung abspülen und Kraft und Frische für den heißen Tag holen. Noch ehe die Sonne über den Micheleberg kömmt, steigen wir in dessen Schatten wieder herauf und nehmen nun gemeinsam das fröhliche Morgenfrühstück in dem trefflichen Hôtel Pagano ein, das ebenso wie das Pranzo um 2 Uhr und die Cena um 8 Uhr trefflich mundet. Von der trefflichen Aufnahme, guten Bewirthung und aufmerksamen Bedienung in dieser musterhaften Künstlerkneipe, die für die beste in ganz Italien gilt, habe ich euch ja wohl schon bei meinem ersten Aufenthalt in Capri (am 1–3Mai) geschrieben und ich habe jetzt täglich Gelegenheit dies von neuem zu bestätigen. Dabei bezahlen wir so wenig (9 Carlin = 1 rℓ Preußisch) für Alles in Allem pro Tag, daß mein durch den theuren Aufenthalt in dem eben so kostspieligen als schlechten || Neapel sehr angegriffener Beutel sich von seiner Schwindsucht zu erholen beginnt, was für Sicilien sehr ersprießlich ist. Der nette Wirth Signore Pagano, ‒ wie wir ihn nennen: „Don Michele“ − sowie seine gute Frau, der nette, älteste Sohn, der 16jährige „Pepino“ (Guiseppe) und die ganze übrige Familie sind so liebenswürdig, daß man sich schon in den ersten Tagen ganz heimisch fühlt. Die Locanda selbst ist überaus freundlich und reinlich, so recht nach meinem Geschmack und erinnert mich durch ihre kleinen freundlichen Zimmer mit ihren reinweißen, ganz schmucklosen Wänden und den blühenden Blumentöpfen auf dem Gesims oft lebhaft an unsere trefflichen gemüthlichen Bauernkneipen im Salzkammergut, in Tyrol etc. Von modernem Hôtelluxus findet sich keine Spur, ebenso wenig von der widerwärtigen Kellnerwirthschaft ‒ alle Dienste versieht die Wirthsfamilie selbst. Ich habe das netteste Zimmerchen im ganzen Haus bekommen. Es ist zwar nur sehr klein, öffnet sich aber durch zweik weite hohe Flügelthüren in eine große lichtvolle hoch gewölbte Loggia, aus deren beiden weiten, nur durch einen schmalen Pfeiler getrennten Bogenfenstern (die nur durch Gardinen verschließbar sind,) ich den schönsten Blick auf die stille Natureinsamkeit der Mitte der Südküste habe: links den großen Tuoroberg mit dem Telegraphen obenauf, darüber vorragend aus dem Meer die wilde öde Faraglioniklippe, wie eine uralte halbzertrümmerte Pyramide, dann in der Mitte die Certosa, eine mittelalterliche Klosterruine mit schönen Rundbogengängen, l rechts vor mir im Garten des Hauses die schönste Palme, die man sich denken kann, darüber im Hintergrund der steile Berg Castiglione, der die malerischen Ruinen einer alten Burg trägt. Und nun in der Mitte zwischen den beiden Bergen über den Karthaus das himmlisch blaue Meer, dessen unendlich weiter offner Spiegel, nur selten von einem einsamen Segel belebt, mir fast noch nirgends so unermeßlich und großartig erschienen ist, wie grade hier. Steige ich nun aus meiner Loggia nur wenige Stufen hinauf, auf das über ihr sich wölbende niedere Kuppeldach, so habe ich dazu noch den reizendsten Überblick des ganzen Städtchens, mit seiner hohen Kuppelkirche, den maurischen gewölbten Kuppeldächern, || dem Forte San Michele und vor allem dem mächtigen, breiten Felsgürtel des Monte Solare, der Ost- und Westhälfte der Insel so scharf von einander trennt, daß beide nur durch eine einzige, aus etwa 600 Stufen bestehende sehr steile Felstreppe verbunden sind. Besonders am Abend ist der Aufenthalt auf diesem Dach so reizend, daß wir allabendlich 1–2 Stunden daselbst verplaudern und in voriger Woche als der köstlichste Vollmondschein sein reines Silberlicht in südlicher Glanzesfülle über die ganze Insel goß, die Nächte im Zimmer aber sehr schwül und heiß waren, habe ich ein paar Mal oben geschlafen und auch Allmers hat, meinem Beispiel folgend, ein paar köstliche Nächte oben zugebracht. Diese Vollmondabende waren überhaupt so zauberisch schön, daß ich nie ähnliche im Norden gesehen zu haben meine, vor allem der goldige Spiegel im Meere, der wie ein goldenes Vließ auf den dunkel stahlblauen Wellen hin und her zitterte, daß Gjertsen und nachher auch Allmers und ich ein paar mal von dem hohen Castiglionefelsen aus dem wunderbaren Spiele stundenlang zugesehen haben. Dabei ist der Himmel immer so rein dunkelblau, daß es schließlich fast langweilig wird und man sich, nur der Abwechslung halber, wieder ein paar Wolken wünscht. Regen habe ich nun schon seit fast 3 Monaten beinahe gar nicht gesehen und Gewitter ist nur ein einziges da gewesen. Die Bäume bleiben trotzdem (durch den sehr starken Nachtthau und die feuchte Seeluft) recht frisch Grün; die niedere Vegetation verbrennt aber gänzlich und der Boden ist daher, abgesehen von den immergrünen Sträuchern und Kräutern und einigen Fettpflanzen, überall nur mit dürren vertrockneten Grashalmen und Blättern bedeckt. Im Ganzen erhält er aber dadurch jene wundervollen in lebhaftem Gelb, Roth und Braun spielenden warmen Farbentöne, welche mit dem stillen Violett-Grau der nackten Felsen wunderbar schön contrastiren und der Landschaft ihren echt südlichen warmen Charakter aufprägen. Wenn nun auch in botanischer Hinsicht das Maikleid der Insel mit seiner prachtvollen Frühlingsflora, − den hohen weißen Asphodeluslilien, den wunderbar geformten purpurnen Orchideen, den silberblätterigen Strandwinden, den bunten Ericablüthenwäldern und all den andern köstlichen bunten und duftigen Frühlingsblumen, die Alles damals so reizend kleideten, viel interessanter war, so hat die Landschaft doch in malerischer Hinsicht durch dies rothbraune und glutgelbe Herbstkleid sehr gewonnen und ihren südlichen Charakter erst recht ausgeprägt. || Von dieser mächtigen, wunderbaren Farbengluth, in der die Felsen und Berge hier, besonders im Morgen- und Abendroth, in allen möglichen Nuancen spielen und von dem wunderbaren Contrast, den diese warmen Farbenstufen mit dem kühlen Grau und Violett anderer Stellen und dem Violettblau der Schlagschatten bilden, hat unser blasser, kalter Norden doch kaum eine Ahnung und nur viele Alpenwunder können sich dieser Naturpracht ebenbürtig an die Seite stellen. Und nun dieser Zauber der schönsten Linien, der schwungvollsten Formen; man muß diese Bergconturen, diese Felsbildungen selbst sehen, um sich von ihrem vollendeten Formenzauber einen Begriff zu machen. U. A. zeichne ich jetzt einen Berg, den Tuoro grande, der durch den kühnen Schwung und rhapsodischen Fall seiner Umriße mit dem als dem schönsten Europas gerühmten Berge, dem Monte pellegrino bei Palermo, kühn wetteifern kann. In dieser wildesten, großartigsten Gebirgswelt der Felsen fühle ich mich so recht glücklich und heimisch und kann in Zeichnen und Malen ihrer unübertrefflichen Formen und Farben gar nicht müde werden, so daß sich selbst die Maler darüber verwundern. Ein großes Aquarell ist mir auch so gelungen, daß Allmers gar nicht glauben wollte, daß ich es allein gemacht hätte und schließlich meinte, wenn es wirklich wahr wäre, so wäre die größte Gefahr vorhanden, daß ich den Quallen und Seesternen untreu würde. Und in der That, der Gedanke, noch auf meine alten Tage Landschaftsmaler zu werden, ist mir nie so nahe getreten, wie grade jetzt hier, wo ich in das heitere, harmlose, phantasievolle Künstlerleben einen so reizenden Blick gethan und dessen Lichtseiten gegenüber dem ernsten, kalten, verständigen Wissenschaftsleben des Gelehrten, so recht schätzen gelernt habe. Was muß das für ein Glück sein, immer nur in der poetischen Welt des Lichts und der Farben zu leben und Formen und Gestalten der unerschöpflich reichen Natur mit treuem Pinsel wiederzugeben; dabei alles Unschöne vermeiden und die Phantasie immer nur zu Schöpfungen des ewig Schönen und Anmuthigen spielen zu lassen. Wirklich − wäre ich nicht Naturforscher, so möchte ich bloß Landschaftsmaler sein (was übrigens auch nur ein Stückchen Naturstudium ist), und wer weiß, was noch passirt! Sicher ist, daß ich gleich nach meiner Zurückkunft in Öl zu malen anfangen werde, worauf ich schon jetzt hier ordentlich brenne.

[Adresse]

vapore diritto. Marsiglia. | Fräulein Anna Sethe. | p. Adr. Frau Professorin Bleek. | Bonn (au Rhin) | (Prussia). | via di mare.

a gestr.: mit; b korr. aus: künstliche; c korr. aus: dieses; d gestr.: durchz; e gestr.: zu; f korr. aus: die; g gestr.: Wi; h gestr.: gehei; i gestr.: nu; j gestr.: stei; k korr. aus: zweite; l gestr.: links

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
18.08.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38259
ID
38259