Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Rom, 19. März 1859

[kol. Vignette: Firenze, Piazza S., Lorenzo]

Roma. 19.3.59.

Felissima Sera!

Mein liebster Schatz!

Heut abend reisen meine freundlichen Gesellschafterinnen nach dem lieben Deutschland (in ihre Heimath Augsburg) zurück, und da kann ich denn die herrliche Gelegenheit nicht vorbei gehen lassen, ohne Dir außer dem herzlichsten Gruß auch ein paar schöne Frühlingsblumen als Naturgenuß aus dem alten Rom mitzuschicken. Um Dir vorläufig wenigstens eine Idee von den herrlichen Ruinen und Palästen Roms zu geben, habe ich auch 6 kleine Ansichten mit beigelegt. Gar zu gern hätte ich Dir auch Einige von den Photographien, die ich hier bekommen, und von den kleinen Aquarellen, die ich gemalt habe, mitgeschickt. Doch schien es mir zu unsicher, und ich hatte noch keine Gelegenheit, ein ordentliches Paket daraus zu formiren. Eigentlich wollte ich mit dieser Sendung auch das Tagebuch über den römischen Aufenthalt mitschicken, aber den ganzen Tag über bin ich so durch Merkwürdigkeiten aller Art in Beschlag genommen gewesen, daß ich auch dazu nicht mehr gekommen bin. Die Zeit ist hier überhaupt im Umsehen verschwunden. Kaum kann ich es glauben, daß ich heut schon 4 Wochen hier bin, und doch ist es traurige Wahrheit. Jetzt habe ich eigentlich erst eine vollständige Übersicht über alle Schätze der unendlich reichen Stadt gewonnen, und jetzt erst möchte ich eigentlich anfangen zu genießen. Indeß spare ich mir diese Wonnen für später auf, wo ich meine bessere Hälfte hier herumführen werde. || Ach Liebchen, wie hüpft mir das Herz vor Freude, wenn ich daran denke, daß ich Dich später einmal hier herumführen werde. Denn das muß sicher geschehen! Und ich kann jetzt schon einen ganz guten Cicerone Roms abgeben; das kannst Du mir glauben. Schwerlich glaube ich, daß Jemand in 4 Wochen Rom gründlicher kennen lernen kann, als ich gethan habe (ausgenommen den Fall, daß er für die sehr weiten Wege, die ich immer zu Fuß gemacht (gesprungen) habe, einen Wagen nähme, wie das hier fast alle Leute thun). Grade durch das eigene selbstthätige Herumstöbern und Aufsuchen lernt man die Sachen weit gründlicher und besser kennen, als durch das, freilich viel bequemere, Sichführenlassen, welches die meisten andern Reisenden thun. Wie kenne ich jetzt jeden Winkel, jede Ruine, jeden Rest der alten klassischen Römerzeit. Jetzt möchte ich eben anfangen, Alles abzuzeichnen und mir so für immer im Gedächtniß zu befestigen. Ich fürchte, daß ich zu unendlich Viel des Schönen, Großen, Klassischen in einer so kurzen Zeitspanne zusammen gesehen habe, als daß es sich nicht im Einzelnen schon in kurzer Zeit verwischen und zu einem mehr allgemeinen Gesamtbild zusammenschmelzen sollte. Dies wird aber mir ewig unvergeßlich in den herrlichsten Farben in der Seele eingeprägt bleiben. Ich kann aber auch dem Schicksal nicht dankbar genug sein für die Combination von günstigen Umständen, die mir den hiesigen Aufenthalt so außerordentlich angenehm gemacht haben. Das beständige herrliche sonnenwarme Frühlingswetter, das erst seit 2 Tagen durch Regen unterbrochen ist, die sehr anregende, muntere, natürliche Gesellschaft des Dr. Diruf und seiner 3 Damen, meine hübsche gemüthliche Wohnung, der interessante Verkehr mit den vielen verschiedenen Künstlern, das eigenthümliche römische Volksleben, das ich durch den unerhört glänzenden Karneval in seinem größtmöglichsten Glanze habe kennen lernen, und dann die, gegen den traurigen Anfang, die ersten 3 Wochen der Reise, sehr abstechende Munterkeit, der offene, || lebhafte und empfängliche Sinn, mit dem ich das Alles habe genießen können. Habe ich natürlich auch Dich, mein bester Schatz, sehr viel, ja beständig bei all dem Herrlichen und Schönen, das ich gesehen, vermißt und hat mir die bange Sehnsucht nach der Liebsten auch einen starken Schatten auf alle die hellen Sonnenlichter edelsten Kunst- und Naturgenusses geworfen, so hat doch andererseits auch der Gedanke an Dich mir all das Schöne doppelt schön, Natur und Kunst doppelt herrlich erscheinen lassen. Ach Liebchen, wie habe ich Dich immer herbeigesehnt, und welche Vorfreude habe ich, jetzt, in dem Gedanken, nicht nur Dir dann zu Haus recht viel erzählen und zeigen zu können, sondern Dich selbst künftig in diesen reichen klassischen Orten herumzuführen, die ich nun selbst so gut kenne. Nur dieser Gedanke des Wiedersehens erleichtert mir etwas den Schmerz des Abschieds von der wunderbaren Stadt, in der ich für meinen ganzen inneren Menschen einen so enormen Zuwachs von Kenntnissen, Anschauungen, Ideen und Bestrebungen der schönsten und besten Art gewonnen habe, wie ich mir nicht entfernt hatte träumen lassen. Übermorgen soll es also wirklich leider fort von hier gehen. Ich denke, wenn sich das (seit 2 Tagen schlechte) Wetter wieder bessert, 8–10 Tage im Gebirge zuzubringen, das mir überaus reizend geschildert wird. Bisher habe ich von den weiteren Umgebungen nur das reizende Tivoli gesehen, wo wir einen ganzen Tag zubrachten. In den letzten Tagen hatten wir wieder überaus herrliche Kunst- und Naturgenüsse. Gestern (18ten März! Befreiungstag vor 11 und vor 1 Jahre! Erinnerst Du Dich des Schlummerstündchens vom Hafenplatz N. 4 ??) bin ich nun den ganzen Tag von früh 9 bis Nachmittags 5 Uhr in der wundervollen Antikensammlung des Capitol gewesen und habe allein 1 Stunde in der Betrachtung der Capitolinischen Venus zugebracht, eines der wundervollsten Kunstwerke, die ich je gesehen. Wie mußte ich da immer an meine kleine Venus denken! ||

Ein kostbarer Tag war auch der vorige Sonntag (13) wo ich von früh bis Abends in der schönsten römischen Villa, Doria Pamfili, war, wo wir eine köstliche Piniengruppe malten. Die Versuchung zum Malen ist hier überhaupt überall unendlich groß. Jahrelang möchte ich hier (natürlich mit Dir!) bleiben, und nur Aquarelle der köstlichen Landschaft, der Stadt und der klassischen Statuen entwerfen. Wenn nicht andererseits die Sehnsucht nach dem Meere und der ernsten Arbeit wäre, möchte ich gar gern noch den 2ten Monat hier bleiben, wo ich dann das berühmte Osterfest mit seinen großen Feierlichkeiten sehen würde, an welchem Schwindel mir allerdings sehr wenig liegt. So aber werde ich wohl in 14 Tagen in Neapel anfangen, die Meeresschätze zu ergründen. So eben habe ich mit Girls den letzten Ausflug in die Campagna gemacht, nach der 1 Stunde entfernten Pons Nomentana und auf den Mons sacer (der heilige Berg), berühmt durch die Anrede des Menenius Agrippa (über die Bedeutung des Magens, gegen den sich die andern Glieder des Leibes empörten), als die Plebejer aus Rom auswandern wollten.

Es war ein wundervolle Genuß, das Albanergebirge mit seinen schönen sanften Linien in den schönsten Farben zu sehen. Das Sabinergebirg war in schwere Regenwolken gehüllt, die öde weite grüne Campagna mit ihren Wasserleitungen und Ruinen von den schönsten Schlaglichtern beleuchtet. Wie gern plauderte ich noch mit Dir, mein liebstes Herz; ich muß aber leider den Brief schließen, da die Augsburgerinnen in 1 Stunde abreisen wollen. Ich lege noch ein paar Gedichte von Dr. Kunde bei, die Dich gewiß interessiren werden. Ferner zur größeren Sicherheit nochmals die Adresse nach Neapel, die ich schon im vorigen, am 16ten abgeschickten Brief angab, den Du inzwischen erhalten haben wirst. Deinen letzten, am 5ten abgesandten Brief erhielt ich am 14ten. Nochmals 1000 Grüße und Küsse, mein herziger Schatz, von Deinem treuen Erni

(N. B. Daß ich Petersens allemal aufs beste mitgrüßen lasse, versteht sich von selbst. Ich halte es für überflüssig, noch nach Berlin und Freienwalde immer Grüße mitzubestellen, da man nur von dem kostbaren Briefraum dadurch verliert.) ||

[Beilage: Gedichte von Dr. Kunde, Abschrift von Ernst Haeckel]

Es sitzt auf dem Draht am Wege

Ein Vöglein traurig und bang,

Das Männchen hat es verlassen,

Drum singt es so klagenden Sang.

Am Fenster im nahen Hause

Da steht ein Mägdelein

Die Sonne schaut ihr ins Antlitz

Sie blicket trübe hinein.

Wie sollte sie sich nicht härmen,

vom Liebsten trennt sie das Meer

Und denkt sie: „Er hat mich verlassen

Zwei Monde schrieb er nicht mehr.“

Da kömmt die electrische Botschaft:

„Mein Liebchen, ich lebe und lieb!

Und morgen werd’ ich Dich drücken

Ans Herz, das treu Dir verblieb!“

Doch von dem electrischen Drahte

Fiel todt das Vöglein herab –

Ich fands auf dem Wege zur Liebsten;

Wir gruben ihm dorten ein Grab!

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Ich habe mir ein Haus gebaut

Im Walde, wo der Quell so laut;

Für Dich und für mich; für mich und für Dich;

Es ist so enge und wonniglich!

O komm mein Lieb, komm bald herbei,

Wir kosen hier und küssen frei;

Und sind allein und ungestört;

Die ganze Welt uns dann gehört.

N. B. Das Porto, liebster Schatz, schreib ordentlich an und laß es Dir nachher von den Eltern bezahlen. ||

Ich lag in bangen Träumen

So traurig und allein

Unter Siciliens Bäumen

Im Abendsonnenschein.

Die Klosterglocken klangen

Durchs gründe stille Thal

Im Wunderbaume sangen

Die Vöglein allzumal.

Da kam vom Bergessteige

Geführt von seinem Kind

In dürrer Hand die Geige

Ein Spielmann alt und blind.

Und zarte a Harmonien

Lockt sinnig er hervor,

Mit heitern Melodien

Berauschte er das Ohr.

Doch wie zuletzt verklungen

Italiens muntrer Klang,

Da hat er mir gesungen

Noch einen deutschen Sang.

Der Heimath süße Töne

Tief in das Herz mir drangen

Und lockten Sehnsuchtsträume

Auf meine heißen Wangen.

Adresse in Neapel:

Al Sgre. Dottore E. H. di Berlino,

p. Adr. Sgre. Ernesto Berncastel

Farmacia Prussiana.

Largo S. Francesco di Paola N. 7.

Napoli

franco fin an Napoli (via Marseille).

N. B. Es muß entweder gar nicht, oder nur ganz bis Neapel frankirt werden.

[Beilage: Lageplan von Rom, Stadtzentrum)

a gestr.: Melodien

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
19.03.1859
Entstehungsort
Rom
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38257
ID
38257