Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Carl Gottlob Haeckel, Neapel, 25. April 1859

Neapel. 25.4.59.

Lieber Vater!

Am 21st. erhielt ich Deinen lieben, am 14t. abgeschickten Brief über den ich mich sehr gefreut habe, da er mir sagt, daß es mit der lieben Mutter wieder besser geht und ihr Alle munter seid. Sehr frappirt hat mich aber die Notiz über unsere Kriegsrüstungen, a sie stimmt ganz mit dem, was wir Preußen hier schon gehört hatten.

Sollte wirklich mobil gemacht werden und wir müßten nach Hause, so könnte das meine ganze Laufbahn stören. Würde ich als Unterarzt in ein Regiment gesteckt, so würde das mich gänzlich aus meiner wissenschaftlichen Karriere, in die [ich] mich eben erst wieder mit vieler Mühe vertieft hatte, herauswerfen und wer weiß, wann ich dann wieder hineinkäme. Zunächst würde sie auch diese Reise, von deren Erfolg für meine wissenschaftliche Ausbildung und mein Fortkommen ich mit Recht so Viel gehofft b hatte, ganz stören und sie grade von dem Punkte abschneiden, wo sie, wie ich hoffe, recht fruchtbar zu werden beginnt. Die erste Zeit der Arbeit, in der man sich erst nach allen Richtungen praktisch und theoretisch orientiren muß, ist c immer die schlimmste, und diese habe ich grade jetzt hier überwunden. Nach 3 wöchentlicher ziemlich angestrengter beständiger Arbeit, die, weil sie wenigstens direct keine dankbaren und befriedigenden Resultate lieferte, mir recht ermüdend und verdrießlich war, bin ich nun endlich wieder auf dem Punkte angelangt, wo ich mir bestimmte Aufgaben gestellt habe (hier das Wesentlichste!) und nun wirksam ins Einzelne gehen zu können hoffe.

Ich denke, daß mir die kommenden 2 Monate dann die verlorne Arbeit dieses ersten mit ersetzen sollen. Sollte dies nun durch eine Mobilmachung, die mich nach Hause rief, vereitelt werden, so wäre es mir sehr leid. Im günstigsten Falle würde dadurch alle diese bis jetzt für diese Reise aufgewandte Mühe, Arbeit und Kosten umsonst ausgegeben sein und müßte ich auf einer andern späteren Reise wieder von vorn anfangen. Im ungünstigsten Falle würde ich dadurch aber in meiner wissenschaftlichen Laufbahn völlig gestört und wer weiß was aus [mir] würde, wenn ich erst längere Zeit als Unterarzt in ein Regiment eingepreßt würde. Ich bitte Dich also dringend, lieber Vater, Dich genau zu informiren, speciell auch über mein Militärverhältniß zu instruiren, ob ich im Fall der Mobilmachung sogleich zurück muß. || Ich bin bei der letzten, definitiven Untersuchung (im Herbst 57) zur „Armee-Reserve“ gestellt. Mein Militärpapier liegt in dem versiegelten Paket, welches Mutter in Eurem blechernen Kasten mit den Werthpapieren aufbewahrt. Sollte ich, wie andere im Ausland lebende Preußen, im Fall der Mobilmachung zurückberufen werden, so erkundige Dich doch genau nach dem äußersten Termin und suche mir noch wenigstens soviel Urlaub zu gewinnen, daß ich wenigstens einige der angefangnen histologischen Arbeiten beenden kann. Nichts wäre verdrießlicher, als umsonst alle Vortheile der jetzigen Situation hier aufgeben, bloß, um ein paar Wochen in Garnison zu liegen, zurückkehren zu müssen.

Sollte es aber mit dem Krieg auch unsrerseits Ernst sein so würde ich natürlich gleich zurückkehren. Jedenfalls bitted ich Dich, sobald Du etwas sichres erfährst, mir sogleich zu schreiben. Die Störung wäre mir grade jetzt um so fataler, als jetzt erst die hiesige Situation sich für mich günstiger zu gestalten anfängt. Die seltene Ungunst des Wetters hat mir bisher den hiesigen Aufenthalt ganz verdorben. Während sonst der April in Neapel als die köstlichste Jahreszeit gerühmt wird, in der ewig heitere Sonne vom dunkelblauen Himmel lacht, ist er in diesem Jahr hier ganz aus der Rolle gefallen und war so unangenehm und düster, als es bei uns nur immer sein kann. Die ganzen letzten Wochen habe ich die Sonne fast nicht gesehen; die See war so grau uniform wie dere Himmel und das Gebirg hatte denselben permanenten Schleierf, so daß ich auch noch nicht ein Aquarell hier habe anfangen können. Dazu vertrieb mir der Regensturm alle Thierchen und der das Nervensystem erschlaffende Scirocco machte mich zur Arbeit halb unfähig. Jetzt hat sich mit einmal am ersten Ostertag das Blatt gewendet. Seit gestern Morgen lacht wieder die heiterste Sonne vom dunkelblauen Himmelszelt und zeigt mir mein Gegenüber, den rauchenden Vulkan und die malerische Küste von Sorrent in seiner ganzen Klarheit. Zugleich erscheinen die bestialen Assembleen von Medusen, Polypen, Krebsen und Mollusken sogleich wieder in Masse auf der spiegelglatten Meeresoberfläche und die Fischer bringen mir reiches Material. Zu alledem lockt mich die herrliche Frühlingsnatur ins Freie und meine Bekannten wollen Excursionen machen. || Heute Morgen, am zweiten Feiertag, lockte das köstliche Frühlingswetter so mächtig ins Freie, daß ich nicht umhin konnte, die Microscope zum ersten Mal seit 3 Wochen im Kasten zu lassen und Theil an einer Excursion zu nehmen, welche der hiesige deutsche Gesangverein nach Bajae machte. Dieser Verein besteht aus einigen 30 – 40 Deutschen und Schweizern, meist Handwerkern und Kaufleuten, zum Theil recht nette, meist jugendlich frische Leute. 2 mal wöchentlich kömmt er Abends in der Schweizer Kneipe beim „Appenzeller“ zusammen und ich gehe gewöhnlich auch hin, f plaudere mein deutsches Herz etwas aus und erfreue mich herzlich an dem schönen Männergesang, der von jeher meine besondere Liebe war und hier in der Fremde mit seinen herrlichen deutschen Studenten- Freiheits- Heimaths- und Liebes-Liedern das Herz doppelt erbaut. Ich plaudere recht gern mit diesen einfachen, anspruchslosen, netten Leuten und fühle mich bei ihnen viel wohler, als in dem aristokratischen Circel unserer Mittagsgesellschaft. Schon um das Zusammenhalten des deutschen Elements hier nach Kräften zu unterstützen, gehe ich ziemlich oft hin. Es ist übrigens hier in Italien überall höchst erfreulich, das innige, feste Zusammenhalten aller deutschen Elemente wahr zu nehmen, die wenigstens im Auslande die berühmte deutsche Einheit im besten Sinne repräsentiren, die daheim die Eigensucht und Willkühr der Fürsten nicht zu Stande kommen läßt. Dieser deutsche Gesangverein nun machte heute, wie jeden Ostermontag bisher, eine Tour nach dem Golf von Bajae. Wir fuhren zunächst im herrlichsten Frühsonnenschein an der Chiaja hin, dann durch die Grotte des Posilip, einen hohen 2000‘ langen, schon von den alten Römern durch das Vorgebirge gehauenen Tunnel, der ihnen den beschwerlichen Umweg über das Vorgebirg nach Pozzuoli ersparen sollte. Dann fuhren wir immer unmittelbar am Meerstrand des reizenden Golfs von Bajae hin, ein überaus wundervoll ausgebuchteter Halbkreis mit vorspringenden, äußerst malerischen Halbinseln. Der Strand ist überall dicht mit den Resten der Mosaiken und Substructionen aus den Villen der Römischen Großen, des August, Nero, Lucull, Pollio, Cicero, Hortensius etc. geschmückt, die in dichter Folge diesen reizendsten Meerbusen rings schmückten. || Bajae selbst mit seinem auf steilem Fels vorspringenden Castell liegt ganz reizend hinter dem Cap Misen. Von da gingen wir nach dem Lago Fusaro hinüber, dem Brackwassersee, in dem schon zu Zeiten der Römer die köstlichsten Austern künstlich gezogen wurden. Wir nahmen ein glänzendes Frühstück davon ein, welches ich viel lieber euch gegönnt hätte, da ich Austern lieber microscopire als esse. Dann befreiten wir im Triumph mehrere gefangne Rotkehlchen aus den grausamen Händen angehender Lazzaronis. Von da gingen wir zum Avernersee, der jetzt in einen Kriegshafen umgewandelt und mit dem Meer durch einen Kanal verbunden wird. Wir gingen rings an seinem Ufer herum, durch prächtige Orangengärten und die große Ruine eines Apollotempels. Das schönste des Tages kam aber noch, die Besteigung des Monte nuovo, zu der ich jedoch bloß 4 Landsleute mir zu folgen bewegen konnte. Es ist dies ein erst vor 300 Jahren entstandener, ganz rein konischer Vulcan, mit einem prächtigen rein trichterförmigen Krater. Ein paar ähnliche Krater in nächster Umgebung nach den anderen Seiten. Vom Gipfel überaus herrliche Aussicht, an der wir uns bei der köstlichsten Beleuchtung gar nicht satt sehen konnten. Den Golf von Bajae mit seinen reizenden Küstenvorsprüngeng, die Campanischen Inseln, Ischia, Procida, Capri mit ihren reizenden prächtigen Formen, ein Stückchen vom Golf von Neapel, der Stadt, dem Vesuv, ferner Pozzuoli, Bagnoli etc. Alles im herrlichsten südlichen Farbenschmelz, dessen gelbe und rothe warme Tinten, das brennende Ultramarinblau des Meers und Himmels, die violetten Tinten der Ferne, durch keine Beschreibung, keinen Pinsel wiederzugeben sind. Diese eine Stunde seligsten Genusses entschädigte mich mehr als hinlänglich für allen Unmuth, alle vergebliche Noth und Plage der verflossenen Wochen. Hätte ich euch nur auf Augenblick in dies Paradies zaubern können. Um mein Naturglück voll zu machen, wurde ich auch noch durch den Fund einer köstlichen, rothen, mir unbekannten Orchidee und dichte Gebüsche großer weißer Cistrosen (Cistus) überrascht. Um 5 Uhr waren wir wieder in Bagnoli, am Strande unweit der malerischen Insel Nisida, woselbst wir zusammen ein sehr fröhliches Mittagmahl einnahmen, und dann bei Sonnenschein zurückfuhren. Mein Herz war nach der langen Einsamkeit wieder mal aufgelebt, und die lieben deutschen Volkslieder trugen nicht wenig dazu bei! ||

Neapel 25. 4. Ostermontag.

Heute nur noch einen herzlichsten Briefkuß und Gruß mein liebster Schatz. Wie Du aus den Zeilen an Vater sehen wirst, habe ich heute einen an edelstem Naturgenuß reichen Tag verlebt, der Deinen Erni wieder ganz glücklich froh und heiter gemacht und ihn mit dem Mißgeschick der letzten Wochen ausgesöhnt hat. Hoffentlich dauert das seit gestern gekommne herrliche Frühlingswetter nun fort und bringt mir reiches Material. Grüß mir all die lieben Orte, von denen wir zusammen so viel schöne Erinnerungen haben, viel 1000mal und bleib mir recht munter und gesund. Noch einen herzigen Kuß von Deinem treuen Erni.

An alle Lieben, besonders auch nach Freienwalde die herzlichsten Grüße. Der liebsten Mutter, bist Du nun doch hoffentlich wieder ganz hergestellt. Versäume nur nicht, bei dem schönen Frühlingswetter fleißig spaziren zu fahren. Könnte ich Dir nur immer hier einen von den leichten „Carozzellen“ schicken, die Dich für 3 Sgr den weitesten Weg fahren. Jedesmal wenn ich ihr Anerbieten verschmähe, denke ich: „Wie gern würde deine Alte jetzt das annehmen!“ ‒

Herzlichsten Gruß von Deinem treuen Jungen.

N.B. Adressirt die nächsten Briefe wieder an Berncastel. Largo S. Francesco di Paola 7.

a unleserlich gestr.; b gestr.: flehte; c gestr.: hier; d korr. aus: so; e korr. aus: des; f korr. aus: Schleierung; g korr. aus: vorspringenden

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
25.04.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38182
ID
38182