Ernst Haeckel an Karl Haeckel, Jena, 2. Januar 1877
Jena 2 Jan 77
Herrn Kreisgerichtsrath
Haeckel. Potsdam.
Lieber Bruder!
Für deinen eben erhaltenen lieben Brief und die Glückwünsche zum neuen Jahr danke ich Dir herzlichst. Hoffentlich bringt dasselbe auch Dir und Deinen Kindern nur Gutes! Du hast ein schweres und trauerreiches Jahr hinter Dir. Ich kann mir denken, wie trübe der Rückblick auf dasselbe und somit auch die Feier des Weihnachtsfestes für Euch gewesen ist. || Da ja aber im Leben immer Regen und Sonnenschein abwechseln, so hoffe ich, daß auch in Deiner Familie nach diesem schweren Trauerfalle und mancher Kindersorge sich die Lichtblicke des Schicksals bald wieder zeigen und Dein Herz erfreuen.
– Von unserem Ergehen wird Dir Mutter bereits gemeldet haben. Wir haben in unserer zehnjährigen Ehe noch kein Weihnachtsfest so vergnügt wie dieses gefeiert. Alle drei Kinder waren sehr munter und freuten sich so recht von Herzen. ||
Walther und Lisbeth spielen sehr hübsch, mit viel Talent u. Eifer, Klavier. Auch in der Schule gehts mit Walter viel besser. Lisbeth, die das Lesen kaum gelernt hat, liest und schreibt den ganzen Tag, und scheint den Geschmack für Bücher, der Walter fehlt, doppelt zu besitzen. Im Übrigen ist sie ein sehr übermüthiges und gescheutes Thierchen, welches aber gehörig gezähmt werden muß. Klein Emma kann trotz ihrer 4¼ Jahre immer noch nicht sprechen, singt aber dafür den ganzen Tag alle möglichen Melodien, und ist sehr schelmisch lustig. || Mir selbst geht es sehr gut. Meine schöne Medusen-Arbeit, die durch seltenes und werthvolles Material aus Edinburgh, Kopenhagen, Berlin etc. an Werth und Umfang sehr bedeutend gewonnen hat, macht mir außerordentliche Freude. Auch meine sonstigen Verhältnisse hier haben sich so hübsch gestaltet wie ich nur wünschen kann, so daß ich sehr zufrieden bin. Deine lieben Kinder grüße herzlichst von mir und den meinigen. Agnes trägt mir noch einen besonderen Gruß für Dich auf.
In aller Liebe Dein treuer
Bruder Ernst Haeckel