Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Innsbruck, 20. September 1862

Innsbruck 20. 9. 62.

Liebe Eltern!

Eigentlich sollte dieser Brief schon von Meran aus vor 8 Tagen an euch geschrieben und abgeschickt werden. Es gab aber in den drei Tagen in Meran so Viel zu besehen und zu besorgen, dass sich leider nicht dazu kam, und in den folgenden Tagen der Fußwanderung, die erst heute zu Ende gegangen ist, war es vollends unmöglich, einen ruhigen Augenblick zum Schreiben zu finden.

Euren lieben letzten Brief, den Geburtstagsbrief für Anna, für den wir Beide euch bestens danken, erhielten wir erst im Momente unserer Abreise von Meran, am 16. Sept. früh. Die andern Briefe, von Berlin und Freienwalde, waren schneller a gegangen und schon Tags zuvor angekommen. Wie freut es uns, daß ihr wohl seid, und auch euer Riesengebirge so schön genießt.

Wir haben hier in Tyrol wieder 14 glückliche genußreiche Tag verlebt, obwohl uns das Wetter nicht so, wie in Salzburg begünstigte. Ich kann euch das Tagebuch erst später nachschicken und gebe euch heute nur eine ganz kurze Skizze unserer Wanderung in den letzten 14 Tagen. ||

Sonntag den 7ten Septbr früh von Salzburg nach Reichenhall, um nach Berchtesgaden, Watzmann, Ramsau etc zu gehen; da es aber regnete, fuhren wir am 8. per Eisenbahn (reizend!) nach Innsbruck. Am 9 dort geblieben, sehr nett bei meinem Freund Schullern, der schon 2 Kinder hat.

Am 10. 9. bei schönem Wetter in das Stubay- Thal gewandert, um über die Stubayer Gletscher ins Ötztal und dann über die Ötzthaler Ferner nach Meran zu gehen. Da aber ein furchtbars Wetter, das am 6. Septbr ganz Tyrol überzogen und verheert, auch alle Brücken und Wege in den engen Schluchten zerstört und die Ferner völlig ungangbar gemacht hatte, so mußten wir leider umkehren und fuhren am b 11. 9. über den Brenner bei schönem Wetter nach Sterzing.c

Von da am 12.d bei Regen über den Jaufen nach Meran, sehr beschwerlich, da das Unwetter die Brücken im Passeyer Thal weggerissen und ganze Bergstücke ins Thal geworfen hatte, so daß wir auf Umwegen über die Berghänge klettern mußten. Vom 13.-15. in Meran, wo wir den 14 sehr nett auf Schloss Lebenberg feierten. Anna war sehr glücklich ihre intime Freundin Anna Funk wiederzusehen.

Am 16 fuhren wir mit Stellwagen von Meran nach Prad, am Fuß des Wormser Joches. ||

Mittwoch 17. Sptbr war der Glanzpunkt der ganzen Reise, indem plötzlich ein wunderschöner Tag in das veränderliche Mittelwetter einfiel, bei dessen Glanze ich Anna auf das Wormser Joch, 9000‘ hoch, führte. Sie war ganz entzückt und selig, ich nicht minder, es ihr zeigen zu können. Diese überaus herrliche Tour, mitten durch die reichste, grandioseste Gletscher- Welt, entschädigt uns reichlich für das Mißlingen der Ferner- Wanderung. Wir übernachteten dort vom 17 zum 18 auf sardinischem Boden (S. Maria) in 7900 Fuß Höhe bei Kälte zum Gefrieren. Ich mußte für die ganze Gesellschaft (noch 3 Erlanger Studenten) den Dolmetscher machen, da ich der einzige war, dere italiänisch sprach, und die Unterhaltung mit den Grenzern führen konnte. Anna amüsirte sich sehr.

Donnerstag 18. 9.f stiegen wir durch das schweizerische Münsterthal herunter nach Mals und von da nach S. Valentin auf der Heide, nach der Etschquelle.

Am Freitag 19. 9. zwölfstündiger Marsch von Valentin nach Landeck, durch die Finstermünz.

Heute, 20. 9. an Carls Geburtstag, fuhren wir von Landeck mit Stellwagen Hierher zurück, von wo wir Morgen nach München fahren. ||

Wenn ihr uns in München noch durch einen Brief erfreuen könnt, liebe Eltern, bitte, adressirt an g mich München, im Bamberger Hofe. Wir bleiben jedenfalls bis Donnerstag 25. 9. (vielleicht noch bis Freitag) dort und gehen dann direct nach Jena, wo wir wohl am 29 eintreffen werden. Anna sowohl als ich sind ganz frisch und munter und glückselig über die herrliche Reise. Anna ist so frisch und kräftig, wie ich sie noch nicht gekannt habe und die forcirten Märsche sind ihr ausgezeichnet bekommen. Etwa 7-8 mal ist sie 10-12 Stunden täglich marschirt, zum Theil auf sehr anstrengenden und beschwerlichen Wegen. 3 Erlanger Studenten hat sie vollständig todt gelaufen!!! Kurz wir sind trotz des mäßigen Wetters höchst glücklich!

Wegen der Meubels werdet ihr wohl schon beschlossen haben; ich fürchte nur, daß der Transport mit Fuhrmann doppelt so theuer, als mit Eisenbahn kommt. Auch werden doch sonst grade neue Möbel recht gut transportirt. Da ich nicht weiß, ob ihr in Hirschberg, Freienwalde oder Berlin seid, schicke ich den Brief durch Helene. Herzlichen Gruß

Euer treuer Ernst.

a gestr.: und; b gestr.: am; c korr. aus: Meran; d eingef.: am 12.; e gestr.: auf dem Joche; f korr. aus: 19.9.; g korr. aus: den;

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Datierung
20.09.1862
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 37774
ID
37774