Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Würzburg, 2. Februar 1856

Würzburg 2/2 56.

Liebe Eltern!

Ihr erhaltet beifolgend den Schluß meines Reisetagebuchs. Es wird euch wohl etwas matt und langweilig vorkommen, da es nicht mehr unter der gewaltigen Macht des frischen Eindrucks nieder geschrieben ist. Die Schilderung wird doch nur halb so anschaulich, wenn man sich Monate lang nachher künstlich wieder in die glückliche Stimmung zurückzuversetzen sucht, welche Einen dort unwillkührlich beherrschte und erhob. Trotzdem habe ich mir alle Mühe gegeben, euch doch ein möglichst anschauliches und genaues Bild von den unbezahlbaren Genüssen dieser herrlichen Reise zu geben, für welche ich euch meinen tiefgefühltesten Dank nicht besser glaube ausdrücken zu können, als eben durch diese möglichst genaue Mittheilung, von welcher ich wünsche, daß sie euch einigermaßen den Mangel eigner Anschauung ersetzen mag. Was hätte ich doch darum gegeben, wenn ihr alle diese Herrlichkeiten hättet mit genießen können! Mir selbst wird die Rückerinnerung daran von Tag zu Tag lieber und süßer. Alle unangenehmen Zugaben verschwinden immer mehr und an ihre Stelle treten die glücklichen, reichen Naturgenüsse um so deutlicher und lebhafter hervor. Das einzig schlimme dabei ist, daß sie mich so beherrschen, daß ich oft ganze Stunden in schwärmerischer Reiseträumerei verliere. Auch die Tropenreise der Zukunft prägt sich immer intensiver und mächtiger in meinen Gedanken und Träumen aus. Vorläufig hält mich glücklicherweise die „liebe“ Medicin noch etwas in Schranken und fesselt mich an die traurige Wirklichkeit. Das Würzburger Joch wird nun freilich bald abgeworfen sein und ich zähle schon die Tage, wo ich wieder nach dem geliebten, mir jetzt so theuren Berlin und in eure Arme eile. ||

Wenn der kurze Februar so rasch vergeht, wie der verflossene Januar, so bin ich, ehe ich michs versehe, auf der Reise. Der letztere ist mir in der That unbegreiflich rasch verflogen trotzdem mein Alltagsleben so einförmig und abwechslungslos ist, als es nur sein kann. Die Carnevalsfreuden, die in der hiesigen Bevölkerung immer eine so lebhafte und warme Aufnahme finden und mit so viel Glanz und Üppigkeit ausgeführt werden, sind an mir spurlos vorüber gegangen. Wenn ich sonst Lust gehabt hätte, hätte ich womöglich jeden Tag auf einen Ball gehen können; allein die beiden ersten Harmoniebälle, die ich nach Neujahr mit machte, haben mir allen Appetit zu weitern Tanzvergnügungen gänzlich benommen. Freilich mag das auch zum Theil an meiner Auffassungsweise der hiesigen Bälle liegen, welche ich wesentlich als gymnastische Übungen auffasse, daher ich denn auch jeden Tanz, der auf der Tanzkarte steht, pflichteifrigst mittanze, ohne doch während der ganzen Zeit meinem Körper irgend eine Erquickung zu gönnen, wobei man ganz vortrefflich mitten im umgebenden Überfluß fasten lernt. Die Würzburger Damen sind aber in der That auch derart beschaffen, daß man nicht wohl anders die Sache ansehn kann. Ich wenigstens habe mich vergeblich bemüht, mit irgend einer ein vernünftiges Gespräch anzufangen (was ich mir also auch ganz auf Berlin versparen muß!) und ihnen Schmeicheleien über ihre Figuren, Haare, Augen, Liebenswürdigkeit etc zu sagen (womit sich die andern Tänzer unterhalten) dazu verspüre ich nicht die geringste Lust, sehe auch gar keine Indication dafür. Also lass ich sie laufen! – ||

In meiner poliklinischen Praxis habe ich jetzt einen sehr schlimmen und interessanten Fall gehabt. Es war ein Arbeitsmann, der einen sehr heftigen Anfall von Rheumatismus acutus bekam. Abwechselnd wurden immer die Knie und Hüftgelenke bald des rechten, bald des linken Beins befallen. Ich gab ihm Opium und Digitalis. Als es schon viel besser ging, wurde ich eines Tages plötzlich gerufen, er läge im Sterben, und als ich hinkam, fand ich ihn in der That nicht weit davon: Kälte und Lähmung der Extremitäten, Bewußtlosigkeit, Erweiterung der Pupille, Herz- und Respirationsbewegungen kaum fühlbar und sehr kraftlos und verlangsamt. Erst nach ¼ Stunde gelang es, ihn durch Senfbeize auf Brust und Waden, encitirende Einreibungen und Frottiren, innerlich Moschus und Kampher, aus der tiefen Ohnmacht wieder zu sich [zu] bringen. Am andern Morgen war er wieder bedeutend besser. Der ganze, heftige Anfall war wohl auf eine Herzlähmung zu beziehen, aber die Ursache blieb sowohl mir, als Prof. Rinecker und dem Dr. Mueller unerklärlich. Denn daß die 16 gran Digitalis, die er in 3 Tagen bekam, ihn vergiftet haben sollten, ist doch kaum denkbar. Das war einer der wenigen interessanten Fälle.

– Im Spital hat es jetzt weniger interessante Fälle gegeben, als vor Weihnachten, wo es wirklich davon wimmelte; jedoch dafür kommen jetzt recht merkwürdige Sectionen vor, auf die ich jetzt ganz erpicht bin. Die Demonstrationen und Vorträge Virchows, die die Sectionen begleiten und ihnen folgen, sind ganz köstlich, und man hört so etwas sonst nirgendwo. Wenn ich nicht so warme Liebe zur Zoologie und Botanik hätte, denen ich stets treu bleibe, so könnte ich vor allem die pathologische Anatomie, besonders aber die Histologie erwählen! ||

Nun komme ich schließlich noch mit einer großen Bitte, liebe Eltern, die ich aber nur dann gewährt zu haben wünsche, wenn euch die Erfüllung derselben keine Unbequemlichkeiten macht oder euch sonst unangenehm ist. Mein Freund Beckmann, der jetzt hier Prosector an der zootomischen Anstalt geworden ist, reist nämlich zu Ostern nach Hause. Nun möchte er sehr gerne auch Berlin auf der Rückreise sehen, das er noch gar nicht kennt. Da aber seine Eltern (sein Vater ist ein armer Landpfarrer in Mecklenburg und hat viele Kinder) ganz unbemittelt sind, so kann er sich nicht auf eigne Kosten diesen Genuß verschaffen. Ihr würdet mir nun eine sehr große Freude machen, wenn ihr mir erlauben wolltet, Beckmann 4–8 Tage auf meiner Stube zu beherbergen. Platz ist ja gewiß in meinem großen dreizimmerigen Quartier bestimmt da. Auch bin ich überzeugt, daß es euch selbst gewiß Freude machen wird, diesen höchst liebenswürdigen bescheidenen Jüngling, dessen bedeutender Geist mir durch seine außerordentliche Klarheit und geniale Fülle täglich mehr Bewunderung und fast möchte ich sagen: Ehrfurcht, abnöthigt, genauer kennen zu lernen. Er wird euch gewiß sehr gefallen. Papa kennt ihn ja schon zum Theil, wenn auch nur oberflächlich. Natürlich würde ich euch nur dann dringend um diese Freude bitten, wenn Du, liebes Mutterchen, wieder ganz wohl bist, und er euch überhaupt sonst nicht störend ist. Hoffentlich geht es Dir aber schon wieder besser und der a böse Rückfall der Krankheit, der mich recht betrübt hat, ist wieder ganz vorbei. Antwortet mir doch im nächsten Brief, was ihr dazu meint. –

Habt ihr denn auch dort so sonderbares Wetter gehabt, wie wir hier? Während es den ganzen December stark fror (selbst bis zu 18°!) ist den ganzen Januar Thauwetter gewesen. Jetzt ist großes Wasser, welches selbst bis in unsern Hof stand, so daß ich ein paar Tage zu Nachen von Hause weggefahren bin! –

An Tante Bertha, Weißens, Passows, und die andren Freunde herzliche Grüße. Euer alter Ernst.

An Adolph Schubert gebt doch einmal „Stöckhardts Schule der Chemie“, ein dickes, kleines Buch, das vorn in meinem Bücherschrank stehen muß, mit rothem Titel auf schwarzem Rücken. Vielleicht findet er dadurch an der Chemie Geschmack! Der arme Kerl!b

a gestr.: Rü; b Text weiter auf S. 2–3 unten: An Adolph … arme Kerl!

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
02.02.1856
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 37511
ID
37511