Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Carl Gottlob Haeckel, Rehme, 30. August 1853

Rheme 30/8 53

Mein lieber Vater!

Wenn Du auf Deinem sehr lieben und ausführlichen Brief, der uns viel Freude gemacht hata, eine entsprechende Antwort erwartest, so ist das eine sehr unbillige Hoffnung. Du in dem paradiesischen Ziegenrücker Schloße und Umgegend hast freilich Stoff und Gelegenheit genug zur Mittheilung. Wir aber hier in dem traurigen Badenest sind aus Mangel an Stoff schon längst versiegt und auf oder in uns selbst zurückgekrochen. Wir könnten Dir also nur von unserm eigensten Selbst und seiner Thätigkeit erzählen, die Du selbst hinlänglich kennst. Langeweile haben wir gar nicht, obgleich hier die herrlichste Gelegenheit dazu wäre. Die Gegend ist höchst einförmig und gleicht ganz dem Merseburger Ackerland. Der einzige leidliche Anblick ist die Hügelkette der porta Westphalica, aber auch das einzige. Promenaden giebt es hier ebenfalls nur 1 einzige, einen schattigen Weg von ½ Stunde, zwischen Gebüsch längs eines kleinen Baches, nach dem Siehl. Wir sind zwar jetzt täglich nach allen Himmelsgegenden planlos auf Entdeckung ausgelaufen, haben jedoch auch nicht nur die allermindeste Schönheit der Gegend entdeckt. Noch weniger ist an der Flora. Außer einem einzigen Salzgras (Poa distans) an den Salinen habe ich auch nicht das Geringste Neue oder nur Bemerkenswerthe gefunden. Desto [mehr] wird secirt und microscopirt, namentlich Frösche, Mäuse, Schnecken, Heuschrecken und andre Insecten. Die Seligkeit des Microscops brauchtb nicht weiter beschrieben zu werden. Es ist wirklich die höchste die ich kenne. ||

Unser Lebenslauf ist demnach höchst monoton, doch eben nichts weniger, als langweilig und folgendermaßen eingerichtet: Um ½6 Uhr aufgestanden, um 7 gebadet, um 8 Kaffee getrunken. Das Bad ist sehr angenehm, 26½° warm, sehr reich an Kohlensäure, Natronsalzen, Brom und etwas Jod und braust immer sehr schaumig sprudelnd, von wegen der Kohlensäure. Den übrigen Vormittag wird secirt und microscopirt, O Wonne! – Um 1 Uhr essen wir (seit heute nicht mehr table d’hote, sondern zu Hause). Dann lese ich für mich den Nachmittag chemische und physiologische Schriften. Um 5 oder 6 gehen wir spazieren, c etwa 1–1½ Stunden, essen dann deliciöse Milch mit Heidelbeeren, oder saure Milch mit Pumpernickel und lesen dann noch ein paar Stunden zusammen, was oft auch schon am Tage geschieht. Wir sind heute mit Immermanns Münchhausen fertig geworden, der uns außerordentlich interessirt und amüsirt hat. Sollen wir euch denselben auch noch nach Ziegenrück mitbringen oder können wir ihn von hier gleich nach Berlin schicken? Botanik treibe ich fast gar nicht; ausgenommen ist microscopische Phytotomie und Ansicht eines Herbarium Constantinopolitanum von Noë, welches deine russische Fürstin, Handjeri, die hier in der Nähe ein Gut hat, und mit Korthüms bekannt ist, auf die mir unbegreiflichste Weise mir zur Ansicht geschickt hat. Bekannte haben wir glücklicherweise jetzt gar nicht mehr hier, seitdem Rathgen gestern abgereist ist, der übrigens ein sehr netter Mann ist und Dir sehr wohl gefallen wird. ||

Wir haben uns jetzt schon viel über den Weg berathen den wir nach Ziegenrück nehmen sollen und bitten euch darum noch um genaue Auskunft und Rath. Rathgen hat uns gesagt, daß die Post von Apolda Morgens 8 Uhr und Nachmittags 4½ abgehe. Hierauf kommt alles an und mußt Du uns dies noch genau schreiben. Dann können wir doch wohl nur mit der um 8 Uhr fahren, weil wir das Nachtreisen möglichst meiden müssen. Wenn wir dann nicht entweder wenigstens eine Nacht durch mit der Eisenbahn fahren, oder 2 Nächte im Gasthaus (entweder in Cassel oder in Minden oder in Apolda oder Halle) übernachten wollen, so bleibt uns als kürzester und bequemster Weg nur eine Tour übrig. Wir fahren danach hier früh um 9 weg und sind (über Hamm, Paderborn etc) um 9 Abends in Cassel. Von dort geht der Zug Abends 10 weg und ist früh um 4 in Apolda. Von da können wir dann früh mit der Post weiter. (Außerdem geht von Cassel um 8 früh 1 Zug nach Apolda, wo er um 2 Mittags ankommt). Dagegen meinten die andern Leute hier, wir führen viel besser über Halle, als über Cassel. Es ergeben sich dann folgende 3 Möglichkeiten:

aus Rehme: Nachts ½3, 10 Vormittags, 7¾ Abends

in Halle: Mittags 1, 8 Abends, 8½ Morgens

Das ist aber immer das Schlimme, daß wir sowohl in Apolda, als in Halle übernachten müßten, oder mitten in der Nacht nach Apolda fahren, was Mutter nicht will. Es geht e nämlich früh kein Zug von Halle, welcher noch vor 8 Uhr Morgens in Apolda ankäme. Jene Route über Cassel scheint also das beste zu sein. Dabei könnten wir uns auch vielleicht 1 Tag in Cassel um sehn. ||

Nun sind noch 2erlei Umstände reiflich zu erwägen,

I. Wir denken unsre Reise am 14ten (vorläufig) anzutreten. Du weist nun, daß wir bloß bis Erfurt führen und dann noch eine Parthie in den Schwarzagrund und nach Rudolstadt machten. Nur ist es die Frage, ob wir gleichzeitig in Erfurt eintreffen und dann, ob es nicht zu spät wird. (Vielleicht reisen wir auch erst paar Tage später). Am 20sten müssen wir doch

jedenfalls in Ziegenrück sein. Auch genießt Mutter sonst Ziegenrück so wenig, da sie am ersten October in Berlin sein muß. Ich bin hierbei neutral. Mutter meint auch daß, namentlich bei dem schlechten Wetter, eine Landparthie uns gar nicht gut sein würde.

II. Dagegen spricht für die Fahrt über Halle ein Umstand. Ich könnte mich nämlich vielleicht dort oder in Merseburg wegen meines Militärdiensts untersuchen lassen, da ich auf keinen Fall in den nächsten Osterferien nach Berlin kommen kann. Ich muß diese nämlich außschließlich verwenden, um endlich einmal mit den Nerven- und Arterienpräparaten zu Ende zu kommen. Und hiezu sind die nächsten Osterferien die einzige Zeit, da ich höchstens noch inclusive nächsten Sommer in Wuerzburg bleibe. Mündlich werde ich Dir das ausführlich demonstriren. Da ich also keinenfalls nächste Ostern von Würzburg fort kann, ist mir der Gedanke gekommen, ob ich mich nicht jetzt wegen des Militärs von Schwartz in Merseburg untersuchen lassen könnte. f Muß denn das von einem Militärarzt oder kann es auch von einem andern geschehn? Sonst könnte es vielleicht auch Heidloff in Erfurt thun, den ich so gern einmal sprechen möchte. In Erwägung aller dieser Umstände bitten wir euch nun ausführlich eure Meinung über die Art unserer Reise zu sagen.

An Karl und Mimmi, an die Ziegenrücker Personen und Localitäten, endlich an Dich selbst den besten Gruß von Deinem Sohne Ernst.g

a korr. aus: hast; b korr. aus: brauchts; c gestr.: essen; d gestr.: mir; e gestr.: f; f gestr.: G; g Text weiter am linken Rand: An Karl … Deinem Sohne Ernst.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
30.08.1853
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 37476
ID
37476