Haeckel, Charlotte

Charlotte Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 29. Januar 1872

Berlin 29/1 72

Mein lieber Ernst!

Als ich heute früh zu Hause kam, fand ich Deinen lieben Brief, und ich freue mich, daß Du mit dem Kindern wieder wohl bist; daß Deine liebe Frau aber wieder leidet, thut mir sehr leid, hoffentlich geht es ihr bald besser. –

Du kannst aber denken wie mich den ganzen Tag alles beschäftigt hat, was Du mir schreibst, es bewegt mich alles; woraus ich sehe, daß Du Befriedigung und Anerkennung in Deiner Berufsthätigkeit findest. – Ueber die Berufung nach Straßburg kann ich nichts sagen, Du mußt selbständig alles reiflich überlegen, was || für Deine Thätigkeit das Beßte ist. – Ich kann Dir nicht zureden aber auch eben so wenig abrathen; nur kann ich Dir im Allgemeinen meine Ansicht aussprechen. Ich halte es durchaus für Dich so wohl, wie für Gegenbauer nöthig, daß Ihr nicht immer in Jena bleibt, ich glaube es wäre Euch gut auch unter anderen Menschen zu leben. –

Dann finde ich es im allgemeinen Unrecht wenn alle tüchtige Kräfte, die an die neu zu gründende Universität beruffen werden, es ablehnen, die sind dann Schuld, wenn nichts || rechtes zu Stande kommt. Ich denke mir die ersten Jahre in Straßburg recht schwierig, und sie erfordern gewiß ein festes, besonnenes Aufträten. Wer hingeht muß sich als Pigonier [!] für deutsches Leben und deutsche Sitte und deutsches Wissen betrachten; und er muß sich reiflich prüffen, ob er den Muth hat mit Besonnenheit dort das Rechte zu vertretten. Doch das sind ja alles Dinge, die Du Dir selbst wirst gesagt haben. –

Eine Stelle in Deinem Briefe, offen gesagt gefällt mir nicht, als ob diese Berufung Dir eine Gehaltszusage in Jena ver-||schaffen würde; das kommt mir so wunderlich vor, das ist doch nicht die Hauptsache. Der zweckmässige Wirkungskreis muß den Ausschlag geben. –

Auch darf nie in Anschlag kommen, daß ich Dich ungern weiter weg haben würde; denn ich bin alt auf mich hast Du gar keine Rücksicht zu nehmen; so Gott will, lebe ich nicht lange; und bei der jetzigen Art zu reisen, wo man sich leicht vernichten kann, kommt das etwas weiter nicht in Betracht. – Prüffe Dich und die Verhältnisse ernstlich. – ||

Du kannst denken, mein lieber Ernst, wie wir hier alle noch ergriffen und betrübt sind von dieser schweren Zeit, ach, es ist zu traurig, die Lücke, die in unserer Famielie gerissen ist, ist zu groß. –

Heute früh sind Theodor und Marie abgereist, gestern Heinrich mit Frau nach Glogau. Alle hier sind nun mehr oder weniger leident: Bertha Pine hat mehrere Tage gelegen; auch Helehne, seit gestern liegt Heinerich Stadtrichter; auch Adelheidchen || ist erkältet. Meine Schwester Bertha war durch diesen Todesfall furchtbar aufgeregt; vorgestern war sie einige Stunden in Potsdam, um mit Karl einiges zu berathen; sie sagt sie habe drüben alles wohl gefunden. – Bertha hatte sich impfen lassen, die Pocken sind aber nicht gekommen. Grüsse Agnes, der ich von Herzen Besserung wünsche, und die Kinder herzlich von Deiner

alten Dich so innig

liebenden Mutter Lotte.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
29.01.1872
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 36451
ID
36451