Haeckel, Charlotte

Charlotte Haeckel an Ernst Haeckel, [Ziegenrück, 23. Juni 1855]

Sonnabend früh

Mein lieber Herzens Ernst!

Herzlichen Dank für Deinen lieben Brief, den ich mit großer Sehnsucht erwarttet. Denke nur an Deine Gesundheit, und überarbeite Dich nicht; wenn Du zu viel Colegen etc hast, so kannst Du ja nicht frei aufathmen. Daß es Dir Schmerz macht, daß Du noch keinen Freund wie Du ihn Dir wünschst gefunden, darin verstehe ich Dich sehr. Das ist auch schwer und kann sich ja mit der Zeit finden. Uebrigens mußt Du Dich nicht stören lassen in Deiner Zuneigung, wenn Du auch das zu vermissen glaubst, was Dir das Heiligste und Wichtigste ist; es ist auch was krankhaftes der jetzigen || wo die Religion so sehr mißbraucht wird, zu selbstsüchtigen Zwecken, wo so viel Heuchelei damit getrieben wird; daß das auch vielfach edle, bessere Naturen abschreckt; daß das Gefühl oder Bewußtsein ihrer Kraft ihres Strebens nach Wahrheit sie dahin bringt, nun auch alles durch sich sein zu wollen. Freilich vergessen die Leute dabei, daß doch ihr ganzes sittliches inneres Leben aus und auf dem Christenthum gebaut ist; und glaube nur in den meisten Menschen ist mehr Glaube und Religion als sie es sich selbst bewußt sind, und als es uns immer erscheint. Vor allem bitte ich Dich dringend; laß Dich durch || diese Erfahrung nicht irre machen; behalte, was Du hast. Und denke daran wie ich Dir oft gesagt, und wie es auch meine innigste Ueberzeugung ist; daß nicht bloß der Prädiger [!] ein Verkündiger des Wortes Gottes ist und sein soll; nein daß einer jeder in seinem Stand und Beruf, er mag noch so verschiedenartig sein, ein Verbreiter und Verkündiger des Christenthums sein soll; und so kann es Dir auch möglich sein viel zu wirken in Deiner Wissenschaft, weil da grade so leicht, die Menschen sich loos sagen, und nur auf eignen Füßen stehn wollen. – Uebrigens werden auch noch viele durch Erfahrung des Lebens anderes Sinnes. Daß Du || das was Du suchst nicht in Hein finden würdest, das habe ich bei seinem Umgang in Berlin gefühlt; aber das darf Dich auch nicht irre machen; Du mußt deshalb doch das Gute an ihm erkennen und fest halten; ich glaube immer in seinem älterlichen Hause muß ein sehr großes Streben nach äusserlichen Dingen: Ehre, Ansehn, vielleicht auch Reichthum etc. sein. –

Wie viel, mein lieber Ernst, gedenken wir Deiner hier in der herrlichen Natur und ich fühle es recht wie Du Dich hier glücklich gefühlt hast. – Schreibe mir doch mal ob Du zu Deiner Schweizerreise besser Geld oder Kassenscheine brauchen kannst. Mit der innigsten Liebe umarmt Dich Deine Mutter.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
23.06.1855
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 36151
ID
36151