Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 1. Juli 1861

1 Juli 61.

Lieber Ernst!

Wir sind heute zum Geburtstag unsrer guten Mutter zusammen. Carl ist hier. Am Dienstag früh bekam Mutter wieder ganz unvermuthet ihren Krampf und in Folge deßen sind starke Rüken- und Gliederschmerzen eingetreten, so daß sie sehr leidend ist. Wir wollen den 4ten nach Teplitz, da dieses für den Rükenschmerz mehr paßt als Warmbrunn. Quinke erklärt die Erscheinungen für Congestionen. Gehen Sie nach dem Kopf, so bekommt Mutter Ausschlag auf dem Kopf. Gehen Sie nach dem Rüken, so tritt Krampf ein, der dann die Rüken- und Gliederschmerzen zur Folge hat. Ich bin sehr wachsam gewesen, daß Mutter sich nicht in irgend einer Art übernimmt. Sie meint aber, wenn sie gar nichts mehr thun, sondern lediglich auf dem Stuhl sitzen und auf dem Sopha liegen sollte, so würde sie noch kränker werden. Eine mäßige körperliche Beschäftigung, das Kramen in der Wirthschaft herum sei ihr geistiges und körperliches Bedürfniß. Mir ist es wichtig, daß unsre Wohnung jetzt so bequem ist und alles so bei einander liegt, daß ich unmöglich glauben kann: es sei ihr schädlich, wenn sie etwas herumkramt. Ich werde aber die äußerste Aufmerksamkeit beobachten, daß Mutter sich nicht übernimmt, wozu sie wohl hin und wieder Neigung hat. Ich bin ja fast den ganzen Tag mit ihr zusammen und laße sie fast gar nicht aus den Augen. Mutter soll nun 30 Bäder nehmen in Teplitz, da wird wohl der 8 od. 10 August herankommen. Dann wollen wir bis Anfang Septemb. zu Schubert nach Hirschberg gehen. Wie gesagt, ich werde die äußerste Wachsamkeit ausüben, kann aber doch Mutter nicht zumuthen, daß sie gar nichts thut. Sie muß nur sorgfältig sein und sich in Nichts übernehmen. Das viele Kranksein hat der Mutter sehr ihre Heiterkeit benommen, sie ist betrübt, weil sie, wie sie sagt, uns || zur Last wird. Da habe ich nur zu trösten und ihr zua versichern, daß dieses gar nicht der Fall ist und daß es mir die größte Freude macht, ihr meine Liebe zu beweisen. Und das ist auch wirklich der Fall. Mutter ist 30 Jahr in unsrer Ehe gesund gewesen und hat meine Krankheiten mit mir durchgemacht. Nun ist an mir die Reihe, daßelbe zu thun. Dazu ist ja die Ehe, daß man sich auch für den andern Ehegattenb opfern lernt, daß man sich ganz aufrichtig unterstützt. Mutter ist, solange ich siec habe mein sittlich religiöser Barometer, mein Vorbild gewesen, darum habe ich sie ja geheirathet, um nicht in Egoismus und Leichtsinn unterzugehen. Diese Prüfungen wie jetzt sollen meine sittliche Kraft stählern, mich in Opfern geübt machen. Dazu lebt der sittlich religiöse Mensch auf Erden. In frühern Jahren war ich sehr ungeduldig, da würde mir die Krankheit der Mutter viel schwerer geworden sein. Jetzt bin ich viel geduldiger und es wird mir viel leichter, ihr beizustehn und sie zu unterstützen. Täglich haben wir ernste Gespräche über den Zwek dieses Erdenlebens und die Ehe ist eine Haupteinrichtung zur Ausübung sittlich religiöser Tugenden. Darum nehme ich die gegenwärtigen Prüfungen gern hin. Vielleicht giebt Gott auch wieder beßre Zeiten. – Daß Du Dich in Jena so wohl befindest, freut uns sehr. Du mußt Dir aber zum Winter ein andres Quartier nehmen, das jetzige ist zu kalt und Du ruinirst Deine Gesundheit. Daß Du dort keinen politischen Aerger hast gönne ich Dir. Allein zu einem großartigen politischen Leben gehören auch große innre Kämpfe. Kein Staat von großer Bedeutung ist davon frei und so müßen wir auch diese Kämpfe mit in den Kauf nehmen. Das lehrt die Geschichte. Diese Kämpfe halten uns wach und kräftig und sichern uns vor dem Einschlafen. Freilich müßen sie zuletzt auch zu einem gewißen Ziele führen und uns vorwärts bringen. Aber sie verlangen große Geduld, weil sie sich durch d Generationen hinziehen, wie aus der Geschichte zu ersehen ist. Für heute genug. Von Teplitz aus ein Mehreres.

Dein Alter Hkl

a eingef.: zu; b eingef.: Ehegatten; c eingef.: sie; d gestr.: ge

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
01.07.1861
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36042
ID
36042