Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 22. Oktober 1865

22 Octob.

Mein lieber Ernst!

Noch habe ich Dir nicht für die Nachrichten gedankt, die Du uns aus Bremen und von Almers Wohnsitz aus gegeben hast. Du kannst doch eigentlich mit dem Resultat Deiner Reise sehr zufrieden sein, Du hast gute wißenschaftliche Geschäfte gemacht und hast gute Gesellschaft gehabt. Von den Niederungen, in welchen Almers lebt, hast Du uns ein recht lebendiges Bild mitgetheilt, es sind ganz schon die niederländischen, die ich aus Ritters Beschreibungen kenne, ganz derselbe Charakter der Fruchtbarkeit, auf der Menschenschlag, der sich auf diesen Niederungen ausgebildet hat, ganz derselbe, in so inniger Beziehung steht Natur und Mensch, derselbe Fleiß, dasselbe prosaische Phlegma. Der poetische Almers macht davon eine seltene Ausnahme. – Wir sind schon wieder 3 Wochen hier in unsrer Häuslichkeit und haben uns allmählich zum Winter eingerichtet. Wir haben noch schöne milde, auch regnische Tage gehabt, der Regen war sehr nöthig, um die Herbstsaaten aufzufrischen. Ich habe auch täglich meine Spatziergänge machen können. Jetzt aber, wo die Morgen schon etwas kalt sind und der Tag später anbricht, gehe ich früh nicht, sondern erst in den Mittagsstunden spatzieren, auch noch ein 2tes Mahl v. 5-6 Uhr. – Zu Berthas Geburtstag, der bei mir vorgestern gefeiert wurde, bin ich aufs angenehmste überrascht worden. – Vorgestern Abend stand auf einmal Mimi mit den 3 jüngsten Kindern in meinem Zimmer. Mutter hatte mir nichts davon gesagt und ich traute kaum meinen Augen, als sie vor mir standen. Sie werden ein Paar Wochen hierbleiben, da Mimi lange nicht auf längere Zeit hier in Berlina gewesen, und manches wieder aufzufrischen hat. – Wir bereiten uns zum || Winterleben vor, Mutter schafft allerlei an. Der October ist sehr günstig gewesen und hat uns viel schöne Tage geliefert, auch jetzt ist das Wetter noch sehr milde. – Ich habe nun die Vorlesungen Ritters über Europa recht durchgekostet und wirklich in succum und sanguinem vertirt, ich bin nun in Europa ganz zu Hause, kenne die Eigenthümlichkeit jedes Landes und seines Bodens und trage die Karte von Europa in meinem Kopfe herum. Es ist doch ein durch seine geographische Lage sehr bevorzugter Erdtheil, nichts Extremes, sondern alles gemäßigt und gemildert und so hat die europäische Civilisation hier recht Wurzel faßen können. Diese verdanken wir aber wieder dem Christenthum. Ihr Wesen liegt doch darinn, daß der Mensch als Mensch als geistig berechtigtes Wesen anerkannt wird, daß es keine Sklaverei duldet, sondern allen Druk von äußerlicher Macht immer mehr vertilgt. Wie ganz anders sieht es im Süden von Afrika aus, der eigentlich ein schönes Land ist, aber entweder noch im Heidenthum und unter dem Druk des Mahomedanismus seufzt, welcher die Sklaverei begünstigt. Da wird es noch etwas zu thun geben, ehe sich hier die Freiheit der Völker und die Anerkennung der Menschenrechte entwikeln wird. Ich lebe, indem ich den Barth über Afrika lese, wie in einer andern keinesweges erbaulichen Welt. Heute Vormittag war ich in der Kirche bei Sydow. Er ist allerdings etwas weitläufig und wiederholt sich oft, aber seine Ansichten über das Wesen des Christenthums sind doch frei von aller Borniertheit und || Beschränktheit, so daß sich auch die gesunden Ansichten jedes frei ausgebildeten Geistes damit vereinigen laßen. Von der Ewigkeit wißen wir so gut wie nichts. Daß es aber ein ewiges fortschreitendes Leben giebt, darüber läßt uns unsers Inneres nicht im Zweifel, diese zweifellose Zuversicht ist der Glaube und an den müßen wir uns hier auf Erden halten. Dort wirst Du auch Deine Anna wiederfinden in höherer geistiger Entwikelung. Ich der ich nur noch kurze Zeit zu leben habe und nun bald von hier scheiden muß, bin von dieser geistigen Fortdauer so überzeugt, wie von meiner jetzigen Existenz und eben so von dem geistigen Wachsthum unserer künftigen Existenz. Gott ist uns hier ein Räthsel, dort werden wir ihn erst in seinem Licht erkennen lernen.

Nun laß bald wieder etwas über Deine Rükreise hören und wie Du Dich jetzt dort eingemiethet hast. Nun wird es wohl recht ans Arbeiten und Studiren gehen. Grüße Deine Freunde von mir

Dein Dich liebender Alter

Hkl

a eingef.: in Berlin

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
22.10.1865
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36019
ID
36019