Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, [Berlin], 16. Februar 1865

16 Febr. 65.

Mein lieber Ernst!

Es ist jetzt Nachmittag zwischen 5 und 6 Uhr, also die Todesstunde unsrer geliebten Anna eben vorüber und Du warsta damals im furchtbarsten Schmerz über den furchtbaren Verlust, der auch Dein Leben bedrohte. Nun ist schon 1 Jahr vorüber und wir können und sollen nun mit ruhigerem Gemüth uns den Verlust zurükrufen und uns über die Bedeutung deßelben für unser Leben aufzuklären suchen. Denn von großer Bedeutung für unser und ins besondre für Dein Leben, das vielleicht noch von langer Dauer sein wird, soll er sein. Doch giebt es auch heute Stunden, wo der Schmerz über unsern Verlust mit stärkerer Gewalt hervor tritt und so wirst auch Du einen solchen Schmerz durchzumachen haben. Ich schrieb Dir in meinem letzten Briefe, daß das sittliche Selbstbewußtsein uns durch dieses Leben tragen müße, ich möchte es lieber die göttliche Vernunft in uns nennen, die uns durch unser ganzes Leben hindurch einem höhern Leben, in welchem sich diese Vernunftb vollständiger entwikeln kann, entgegen führen soll. Unsere Anna ist in diesem höhern Leben schon ergriffen, nur ist ihrc nicht gestattet, uns etwas von ihrem jetzigen Zustande mitzutheilen und wir müßen hier ruhig abwarten, bis wir auch dahin gezogen werden. Inzwischen frägt sich: was wir in diesem Erdenleben zu thun haben? und da komme ich auf das zurük, worüber ich Dir in meinem letzten Briefe geschrieben: auf den Unterschied des Wißens und des d innern Gemüthslebens, welches wiederum in innigster Verbindung mit dem Wißen stehen soll. Sonst können wir unsern irdischen Beruf nicht erfüllen. Denn für dieses Erdenleben sind wir einmal geboren und für diese Erde sollen wir, so lange wir hier sind, wirken und handeln. Dir mein lieber Ernst hat Gott deinen irdischen Beruf mit ziemlicher Bestimmtheit durch Deine Anlagen und Deinen entschiedenen Trieb angewiesen. Ich habe mir den Beruf der Menschen auf dieser Erde durch das Studium der Geschichte klarzumachen gesucht und treibe dieses Studium mit dem größten Intereße. Schon die griechischen Philosophen ins besondre Sokrates und Plato erkannten die göttliche Vernunft im Menschen (den Nuhs Nouse) und daß dieser Nuhs (Nous)f die Welt regiere. Sie suchten deßen Herrschaft in dieser Welt auf ihre Weise möglichst geltend zu machen. Aber die alte || Geschichte f bringt diese Entwikelung nur einseitig hervor. Ihr Uhrwerk lief ab und an ihre Stelle tritt die neuere Geschichte, g deren wirkende Kräfte das Erdenleben im Großen und Ganzen wesentlich umgestaltet haben. Diese Umgestaltung ist vom Christenthum ausgegangen. Dir ist dieses vielleicht jetzt noch nicht klar, so wie sie mir in frühern Zeiten auch nicht war. Aber dennoch ist es wahr. Es ist von der größten Bedeutung, daß die Verbreitung des Christenthums mit der Völkerwanderung zusammenfiel. Die Mongolen drängten eine Maße von Völkern aus Asien nach Europa und hier wurden sie vom Christenthum aufgenommen, hier sollten sie ihrer weiteren irdischen Entwikelung entgegen geführt werden. Es bildete sich das aus, was wir europäische Civilisation nennen, die ganz auf geistlichem Grunde ruht. Denn ein Hauptfaktor dieser Civilisation ist die Erkennung der Menschenwürde in jedem menschlichen Individuo und die Verpflichtung, die Menschenh überall frei zu machen und die im Menschen vorhandenen Kräfte zu entwikeln. i Das Christenthum faßte dieses unter der Gestalt der Menschenliebe auf. „Was ist das erste und größeste Gebot? Liebe Gott über alles und Deinen Nächsten als Dich selbst.“ In diesem Gebot ist alles enthalten und an der Hand dieses Gebots ist Europa civilisirt worden. Diese Civilisation ist in das Innerste unserer ganzen Lebensverhältniße eingedrungen und wir können nicht existiren, ohne sie in einem fort geltend zu machen. Unser Staat, unser ganzes Volksleben sind ganz auf diese Menschenliebe gebaut. Man gehe daßelbe nur durch und man wird dieses bestätigt finden. Alles geht darauf aus, den einzelnen Menschen so frei und glüklich als möglich zu machen, alle seine Kräfte zu entwikeln und ihn menschlich auszubilden. Man sehe nur Wohltätigkeits- Gesundheits- Bildungsanstalten aller Art an, überall steht der Mensch mit seinem Wohlsein und seiner Ausbildung im Vordergrunde. So war es bei den Alten nicht, der Sklave war hirvon ausgeschloßen und in der Aufhebung dieser Sklaverei hat das Christenthum ein großes Werk vollbracht und arbeitet noch fortdauernd darüber. Es gieng aber noch weiter. Die Ausbildung des Einzelnen konnte nur vollständig erfolgen, wenn sich große Erdindividuen, Völker bildeten, wovon jedes besondre Kräfte geltend machte und bestimmte Seiten der Menschheit hervorhob. Hirzu waren wiederum vernünftig organisirte Staaten nothwendig und durch diese wird es möglich werden, die j europäische Civilisation überall zu verbreiten. So ist sie schon nach Amerika übergewandert und k in den übrigen Erdtheilen werden überall Anknüpfungspunkte gebildet, um diese Civilisation dort einheimisch zu machen. In Europa selbst aber schreitet die Ausbildung dieser Civilisation mächtig vorwärts, die Anerkennung der Menschenwürde, die freie Entwikelung jedes Einzelnen wird überall gefordert. Die französische Revolution ist aus diesem Princip hervorgegangen und das Ringen nach contitutioneller Verfaßung will ganz daßelbe, diese Verfaßung soll uns eine höhre Existenz innerhalb des Staatslebens verschaffen, worin Recht und Gesetz für jeden herrscht und alle Willkühr einzelner Stände, die übrigen bloß als Mittel zu brauchen, ausgeschloßenl wird. Wiederum || sollen sich die einzelnen Völker oder Staatsindividuen nach ihrer Eigenthümlichkeit ergänzen und auf einander einwirken. Das Alles fehlte in der altenm Welt, die zuletztn ein vorherrschendes, die übrigen Völker erdrükendes Volk, die Römer kannte, welches denn auch an seiner eignen Tyrannei zu Grunde gegangen ist. Mit diesen Ansichten läßt es sich denn ganz hoffnungsvoll leben. Die Entwikelung der Kräfte jedes Einzelnen ist hirdurch gesichert und durch diese allseitige Entwikelung wird dieses Erdenleben zu einer unendlichen Höhe von Einsicht und Verstand und Achtung jedes Einzelnen entwikelt werden, wodurch der göttliche Weltplan zur Ausführung kommt.

Du mein lieber Ernst wirst auch das Deinige dazu beitragen. Wohl Dir, daß die Art und Weise, wie Du hirzu einwirken sollst, Dir von Gott sehr bestimmt angedeutet ist. Und so lebe nur munter und rüstig fort, deine Anna im Herzen, die vielleicht jetzt schon weis, welcher Weg Dir angewiesen ist und die Du dereinst in ätherischen Lichte wieder finden wirst. Sie möge Dir immer als Schutzengel zur Seite gehen, damit sie Dich dereinst rein und freudig wieder aufnehmen kanno.

Dein dich innigst liebender Alter Hkl

a eingef.: warst; b eingef.: Vernunft; c eingef.: ihr; d gestr.: Handelns; e eingef.: Nous; f eingef.: (Nous); f gestr.: zeigt uns; g gestr.: welche die; h eingef.: Menschen; i gestr.: Dieses konnte nur geschehen, indem; mit Einfügungszeichen eingef.: Das Christenthum faßte...vollständig erfolgen, wenn“; j gestr.: Ci; k gestr.: aus; l korr. aus: beschloßen; m eingef.: alten; n eingef.: zuletzt; o gestr.: kanst; eingef.: kann

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
16.02.1865
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36014
ID
36014