Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin 30. Mai 1855

Berlin 30 Mai 55

Mein lieber Ernst!

Dein letzter uns über Ziegenrück zugekommener Brief, worin Du uns Deine dortigen Verhältniße, in welche Du nun eingetreten bist, schilderst, hat uns große Freude gemacht. Gott scheint Dich allerdings ungemein gnädig zu führen und so bist Du auch unter dieser Leitung zur rechten Zeit wieder nach Würzburg gegangen und hast dort liebe Freunde und einen hübschen Kreis von Bekannten gefunden. Nun nimm auch diese Gelegenheiten, die sich Dir dargeboten haben, recht wahr. Du kannst nun mit innerer Freude und Ueberzeugung Deinen Lebensweg fortsetzen und Deine Bemühungen werden dereinst schon Früchte tragen. Du bist jetzt auf dem besten Wege, bleibe auf demselben und wenn etwa wieder Zweifel und trübe Stunden eintreten, so werden Deine Freunde Dir wohl die Wolken vertreiben helfen und Dich wieder in den Sonnenschein führen. Du hast in Deinen Studien und Bestrebungen noch das große Glük, Dich nicht in den traurigen Kämpfen der Gegenwart herumtummeln zu dürfen, wie es der muß, der den öffentlichen politischen Angelegenheiten seine Intereßen zugewendet hat. Zwar giebt es auch hier wieder einen Standpunkt, von welchem aus man ruhig wird, dies ist der der Geschichte. Aber die täglichen Erscheinungen der Gegenwart berühren uns oft auf die widerlichste Weise. Hier giebt es oft lange trübe Tage und Monate und man weiß oft keinen Rath, als sich die Dinge vorläufig ganz aus dem Kopfe zu schlagen, was freilich nicht lange vorhält. Sodann hast Du bei Deinen jetzigen Arbeiten und Bestrebungen immer die lohnende Aussicht auf das zeitlose Naturstudium und auf das Anschauen der Wunderwerke Gottes auf dieser Erde, während wir Politiker uns diese Anschauung aus der Weltgeschichte holen müßen, und uns dies Antlitz nicht ina so lebendiger handgreiflicher Gestalt erscheint, wie es euch Naturforschern gegönnt ist. Gott wolle Dir auch fernerhin auf Deinem Lebenswege seinen Segen verleihen! –

Wir haben hier die letzten 8 Tage recht unruhig verlebt, die Stettiner kamen, die Frauen giengen nach Frankfurt. Christian blieb hier und es gieng nun an eine Naturalvertheilung des Nachlaßes des Grosvaters, da sämtliche Kinder hier beisammen waren. Da wurden Silberzeug, Wäsche, Glaswaaren, Kupferstiche etc. vertheilt, den Söhnen ist die Bibliothek verblieben und sie sind mit der Vertheilung noch nicht ganz fertig. Ich hatte einen Nekrolog von Grosvater angefertigt, wovon Du ein Exemplar erhältst und der auch in der Berliner und der Cöllnischen Zeitung gestanden hat; es mußte aber, damit er für die Zeitungen nicht zu lang wurde, manches übergangen werden. Ferner haben sich Notizen, die Grosvater aus seinem Leben gesammelt hatte, in den Nachlaßschriften aufgefunden, die zum Nekrolog nur wenig benutzt werden konnten. Wir beabsichtigen also, später mit mehr Muße und Ruhe aus den hinterlaßenen Schriften eine Lebensbeschreibung zu fertigen, die vollständiger sein wird und ein reiferes Bild von dem Leben des Verewigten geben soll. Dazu wollen wir die Muße des Winters benutzen. Grosvater war doch von Geist, Verstand, Gelehrsamkeit, b Charakter und als Staatsdiener ein ganz ausgezeichneter Mann und es gebührt uns, sein Bild recht lebendig und gegenwärtig zu erhalten und es in der Familie recht segensreich wirken zu laßen. Es giebt wenig so reine und ausgezeichnete Charaktere wie ihn, er hat die Probe der Versuchungen bestanden und ist ihnen nicht unterlegen. ||

Ein andrer Gegenstand, der uns in den letzten Wochen sehr beschäftigt hat, ist das Quartiersuchen für Bertha, Gertrud und uns. Bertha und Gertrud wollen nehmlich jede ihren besondern Haushalt führen und jede ihr besonderes Quartier haben. Bertha soll wo möglich par Terre wohnen und eine Aussicht in einen Garten haben, da sie gar nicht aus dem Hause kann. Quincke glaubt sie wieder so weit bringen zu können, daß sie auf Krüken gehen kann, dann könnte sie doch wenigstens im Garten umher gehen. Da fällt es nun sehr schwer ein paßendes Quartier zu finden. Zwar sind hier Quartiere hinten heraus mit Aussicht in die Gärten nicht selten, aber sie liegen oft in sehr entfernten Theilen der Stadt und wirc wollen doch unsern Freunden und Bekannten nicht zu fern wohnen. Hat endlich Bertha ein paßendes Quartier gefunden, so will auch ich in ihre Nähe ziehen und es handelt sich dann wieder um ein paßendes Quartier für uns. Ich bleibe wahrscheinlich bis Ostern in unserm jetzigen Quartier. Wir haben doch bei dem vielen Besehen der Wohnungen die Erfahrung gemacht, daß unser Quartier nicht zu den schlechtesten gehört und manche Vorzüge hat. Wir wollen es also ruhig abwarten, bis wir ein beßeres finden. –

Morgen früh will ich nach Kiel reisen, um Adolph auf 5 Tage zu besuchen. Den 12 Juni etwa denke ich mit Mutter nach Ziegenrück zu reisen, dort wollen wird zuförderst die Wochen von Mimi abzuwarten [!] und zugleich einige Abstecher zu machen [!] z. B. zu Dir. Vor Mitte August werden wir wohl nicht zurükkommen. –

Der Frühling steht nun bei uns in der vollsten Blüthe und wir haben schöne Pfingstfeiertage gehabt, wo alles ins Freie strömte. Nach den Gewittern wird es jedoch immer wieder kühl, und recht beständiges warmes Wetter haben wir noch nicht gehabt. Christian mit Frau und Bertha geht heute nach Carlsbad, in der 1sten Hälfte des Juli werden sie nach Ziegenrück kommen. Die Bleek mit Auguste ist heute nach Bonn und Julius nach Cleve gereist. So stäubt alles auseinander. Tante Bertha hat nun die schweree Aufgabe, sich einen neuen Lebensberuf zu bilden. Bisher war ihre Aufgabe, dem Vater das Alter zu erheitern. Diese Aufgabe ist nun [zu] Ende. Bei ihrer geistigen Ausbildung will sie doch nicht nutzlos hier auf Erden sein, da sinnt und denkt sie nun umher, wie sie sich ein einigermaßen wirksames Leben bilden kann und will deshalb ganz freie Hand haben. Deshalb hat sie es auch ausgeschlagen, mit uns wenigstens zum Theil gemeinschaftliche Wirthschaft zu machen. Sie will ganz selbständig für sich allein dastehn. In [wie]weit dieses bei ihrer Kränklichkeit auszuführen sein wird, muß die Zukunft lehren. Nun für heute genug, mein lieber Ernst. Wenn ich von Kiel zurük bin, ein Mehreres. Dein

Dich liebender Alter Hkl

a eingef.: in; b gestr.: und; c eingef.: wir; d eingef.: wollen wir; e eingef.: schwere

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
30.05.1855
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36008
ID
36008