Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 14. Mai 1855

Berlin 14 Mai 55.

Mein lieber Ernst!

Deinen Brief vom 5ten haben wir erhalten. Wir haben uns seit dem Tode des Grosvaters in großer Unruhe befunden, es giebt täglich viel zu besorgen und zu arrangiren. Wie es beim Begräbniß und in den letzten Tagen vor dem Tode des Grosvaters hergegangen, wirst Du aus meinem Briefe an die Ziegenrücker ersehn, den sie gestern erhalten haben müßen u. dena sie Dir zusenden sollen. Die letzten 4–5 Tage hat uns besonders die Frage über Gertruds u. Berthas künftige Existenz und ob die Wohnung geräumt werden soll? beschäftigt. Sie ist dahin entschieden, daß Bertha einen völlig selbständigen Haushalt führen wird (gegen Mutters Wunsch) und eben so auch Gertrud, die bei abgesonderter Wirthschaftb mit Bertha ein Logis in demselben Hause oder doch ganz in der Nähe suchen soll und wenn sie erst Quartier gefunden haben, will auch ich für uns eins in ihrer Nähe suchen. Das Quartier bei Grosvater ist bereits gekündigt und wird zu Michaelis geräumt. Aber trotz alles Herumlaufens (ich habe mir beinah die Beine abgelaufen) haben wir noch kein neues gefunden. Wir suchen es im Anhaltschen Viertel. Gertrud will durchaus nicht von Bertha weg, sie fühlt sich zu unselbständig, auf den eigenen Haushalt geht sie ein, weil Bertha ihn durchaus verlangt. Mutter hatte Bertha vorgeschlagen, sie an den Mittagstisch zu nehmen u. ihr Frühstückd und Abend freizulaßen. Aber Bertha will durchaus ganz ungenirt sein. – Andrerseits sind wir mit Aufnahme des Inventarii beschäftigt und mit der Naturaltheilung der Silbersachen, Wäsche etc. die nach Grosvaters Verordnung den 5 Töchtern zukommen, so wie die Bibliothek den beiden Söhnen. Auguste aus Bonn ist noch hier, sie wird Ende dieser Woche abreisen und Auta mitnehmen. Christian geht mit Frau und Bertha nach Carlsbad, Anna wird inzwischen bei Tante Bertha bleiben. Ich will Anfangs Juni auf einige Tage nach Kiel zu Adolph und Mitte Juni dann wahrscheinlich mit Mutter nach Ziegenrück, wo ich bis gegen Ende Juli zu bleiben gedenke und Dich mit Carl in Würzburg besuchen will. Schon jetzt fühlen wir eine ungeheure Leere, daß Großvater nicht mehr da ist. Die Lüke wird noch viel fühlbarer werden. Die Regulirung der Erbschaft, die Julius und mir übertragen ist, wird mich beschäftigen, so daß wir vor dem Herbst wohl schwerlich zur Ruhe kommen werden. Unsre Hauptsorge ist jetzt ein gesundes Quartier für Bertha, sie soll wo möglich parterre logiren, da Quincke sie wieder so weit herzustellen hofft, daß sie wieder im Garten herumgehen kann. Da wird es sich nun fragen: ob sich ein solches Quartier finden läßt? Ferner ist es unser sehnlichster Wunsch, daß uns die Ziegenrücker näher kommen und wir sie von Zeit zu Zeit bei uns haben können, um die Lüke des Grosvaters doch einigermaßen auszufüllen. Es kommt mir ganz eigen vor, daß ich nun Mutter wieder ganz bei mir habe. Wir werden uns nun einen Gesellschaftskreis bilden, mit dem wir näher verkehren. In den letzten 8 Tagen haben wir außerordentlich viel Besuch gehabt von Verwandten und Freunden, die uns condolirten. Das Wetter ist fortdauernd sehr kühl und auch regnerisch gewesen, heute haben wir einen wahrhaften Frühlingstag. –

Du erhältst hiebei einen Brief von Mutter, die durch Deinen letzten Brief sehr bange geworden ist, ob Dir die medicinische Praxis auch gar zuwider werden und Du ein dauerndes Deinem Innern widersprechendes Leben, die einen dauernden Mismuth erzeuge, führen möchtest? Ich sehe die Sache nicht so schlimm an. Der große Gegensatz Deiner jetzigen praktisch medicinischen Karriere gegen || die bisherige blos wißenschaftliche muß Dir allerdings sehr auf- und wohl auch schwer fallen. Aber ich glaube, das wird sich geben, wenn Du es erst einige Monate getrieben hast. Denn die ekelhaften Proceduren bist Du ja durch Dein anatomisches Treiben gewohnt und den Zweifel an der Bedeutung der ganzen medicinischen Praxis theilst du ja fast mit allen Anfängern. Dazu kommt, daß wir Dich ja gar nicht nöthigen, künftig medicinischer Praktiker zu werden. Wozu aber die lange Vorbereitung? rufen manche. Aber die medicinischen Kenntniße sollen Dir ja das Reisen erleichtern. Dieses (das Reisen)e halte ich bei Deinem innigen tiefen Triebe für die Natur unerläßlich für Dich. Du mußt Gottes Wunder der Natur auf der Erde sehen, selbst auf die Gefahr hin, daß Du auf der Reise durch Krankheit etc. zu Grunde gehen solltest. Was für eine Fülle von Freude und Genuß steht Dir bevor, wenn Du das große Weltmeer und die Tropenländer sehen wirst! Um dieses leichterf ausführen zu können, dazu soll Dir der Doktor behülflich sein. Denn ob Du auf Staatskosten eine Reise machen könntest? ist höchst zweifelhaft und ohne die eine oder die andre Hülfe würdest Du g wahrscheinlich den größten Theil deines künftigen Erbtheils aufzehren müßen. Kämst Du dann zurük, so säßest Du ganz auf dem Trocknen und wie vortrefflich der Rükhalt an einem etwas eignen Vermögen ist, das habe ich in der letzten Hälfte meines Lebens so recht kennen gelernt und sehe es täglich um mich herum. Mein Wunsch ist also, ohne Dich grade zu zwingen zu wollen, daß Du die medicinische Karriere vollends durchmachst, und wenn Du Dich zusammennimmst und mit einiger Ueberwindung zu Werke gehst, so wird es schon gehen. – Ich habe nur noch wenige Jahre zu leben, vielleicht diese nicht einmal und wünsche Dich, insbesonderst Deine Vorbildung und Ausbildung noch einige Zeit um mich zu haben. Berlin ist und wird immer mehr der Ort des Zusammenschlußes und Besuchs gelehrter, intereßanter Männer (so wie Paris in seiner Art), vielleicht wird es einmal Dein künftiger Wohnsitz, jedenfalls wird es Dir wünschenswerth, Dich von Zeit zu Zeit hier aufzuhalten. Kämen die Ziegenrücker in die Nähe oder vielleicht künftig einmal ganz hieher, hast Du die Mutter u. die Tante, Oncle Julius etc. hier, so hast Du hier immer einen schönen Familienkreis. Solltest Du aber auf Deinen Reisen zu Grunde gehen, so bist Du recht eigentlich in Deinem Beruf gestorben. Denn was mir das preußische und deutsche Vaterland ist und wie ich von diesem und dem deutschen Volke, dem ich angehöre, nicht laßen kann, so wenig kannst Du von der Natur laßen, für welche Dir Gott einen tiefen Sinn und ein tiefes Verständniß gegeben hat. Darauf hat Dich Gott hingewiesen, und es ist recht schön, daß dieses bei Dir so entschieden heraus tritt, daß darüber kein Zweifel sein kann. Für heute genug! Dein Dich liebender Alter

Hkl

a eingef.: den; b eingef.: bei abgesonderter Wirthschaft; c gestr.: auf; d gestr.: Mittag; eingef.: Frühstück; e eingef.: (das Reisen); f eingef.: leichter; g gestr.: de

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
14.05.1855
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 36007
ID
36007