Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 29. März 1854, mit Nachschrift von Charlotte Haeckel

Berlin 29 Merz 54.

Mein lieber Ernst!

Dein gestern hier eingegangenes Schreiben v. 25sten zeigt uns an, daß Du jetzt Würzburg verlaßen, 1½ Jahr hier studiren und dann noch einmal nach Würzburg zurükkehren willst. Ich erinnerte mich sogleich an Deinen früheren Brief, worin du schona schreibst, daß Du zweifelhaft gewesen wärst, ob Du nicht schon zu Ostern ab- und etwa nach Breslau gingest? Nun es geht manchmal so, daß, wenn eine Sache sehr zweifelhaft ist, erst die eine Seite und dann die andre herausgekehrt und besehen wird, und man sich lange nicht entscheiden kann und daß dann wohl noch die andre Seite, der man den Rüken gewendet, die Oberhand behält. So ist es auch hier der Fall gewesen, gegen Deine Gründe zu diesem letzten Entschluß läßt sich nichts erinnern und so sollst Du uns nach Ostern sehr willkommen sein. Auch wir freuen uns aufs innigsteb wieder einmal mit Dir zusammen leben zu können und es wird Dir sehr wohl thun, wieder einmal aus dem ganz einseitigen Studentenleben c rückwärts ins Familienleben zu treten. Wenn alles so geht, wie es gehen soll, so kannst Du hier in sehr angenehme d wißenschaftliche Verhältniße und Bekanntschaften treten, wozu Dir besonders Freund Weiß sehr behülflich sein kann; ganz abgesehen von den lieben Familien Bekanntschaften und Familienleben, das Dich sehr erquiken wird. –

Hier beschäftigen wir uns sehr mit Politik, es herrscht eine sehr große Spannung, wozu sich unsre Regierung endlich entschließen wird? und die Partheiungen sind sehr groß und scharf. Wahrscheinlich wird sich e die Regierung von Oesterreich ins Schlepptau nehmen laßen und diesem folgen. Das dürfte vielleicht noch das Beste sein, da die Oesterreichische Regierung mehr festen Willen hat und ihre Staatsintereßen verfolgen wird, die antirußisch sind, während unser charakterloser König völlig willenlos ist und noch dazu von der größten religiösen Verkertheit beherrscht wird, indem er den rußischen Krieg gegen die Türkei als einen Religionskrieg ansieht (das Kreuz gegen den Halbmond). Es gehört die größte Verblendung dazu, nach allem, was jetzt offenbar geworden, noch an Rußlands Absicht, eine Weltherrschaft zu gründen, zu zweifeln. Daß Preußen völlig ignorirt und als eine Macht 2ten Ranges betrachtet wird, das wird völlig übersehen, weil alles Gefühl für Schande verloren gegangen ist. Wenn man diese Junkers und Pietisten sieht, die kein Gefühl fürs Vaterland haben, so bekommt man schon von Weitem das Erbrechen und die jetzige Schlafheit und Dummheit, die sich seit einigen Jahren in unserm Volke gezeigt hat, bedarf einer starken Züchtigung, um wieder zu einem gesunden Sinn und Leben gebracht zu werden. Die Maße des Volks ist übrigens antirußisch auch ein großer Theil des Militärs in den Provinzen, wie man hört; die jungen faden Gardeofficire, die nur den Befehl eines Herrn, aber kein Vaterland kennen, sind allerdings rußisch gesinnt. Diese Sympathien für Rußland haben in jenen gedachten Klaßen einen tiefern Grund. Die sittliche Civilisation des Menschengeschlechts ist ihnen nichts; g im Corps von sogenannten Herrn, die aber wieder nur Knechte nach oben sind, mit der Peitsche über die Bauern versehn und einige Millionen Kanaillen, die sie beherrschen und maltraitiren und zu ihren materiellen Zweken u. Vergnügungen als da sind Jagden etc. verwenden können, das ist ihre Lebensweisheit. Aber die || Züchtigung für dieses Pak wird nicht ausbleiben. Sie sind in den letzten Jahren mit ihren monströsen Ansichten und Wünschen ungescheut hervorgetreten, weil sie unter ihrem mittelalterlichen Chef alles erreichen zu können glauben. Sie möchten gern die Welt um einige Hundert Jahre rükwärts schrauben. Alle Fortschritte, die wir unter der vorigen Regierung gemacht, sind ihnen ein Dorn im Auge. Aber sie werden fürchterlich gezüchtigt und zurecht gewiesen werden; zunächst vielleicht durch die rußische Knute selbst. Der jetzige Krieg ist nur der Anfang einer großen Kriegsepoche, worin die europäische Civilisation gegen die rußische und slavische Barbarei fechten wird und wenn Du mein Alter erreichen solltest, so wirst Du die Hauptaktionen dieses Dramas erleben und mit durchmachen. Über den endlichen Ausgang des Kampfes bin ich ganz ruhig. Schon jetzt zeigt sich in der Maße des Volks ein tiefer, gründlicher Abscheu gegen die rußische Barbarei und sie wird, wenn sie nur erst ihren richtigen Führer gefunden hat, alles daran setzen, um die in den letzten 50 Jahren eroberten Güter einer Anerkennung ihrer menschlichen Rechte zu wahren und zu behalten. Denn wenn Rußland siegte, so wäre das ganze Volk verloren. Dazu kommt die in den letzten 30 Jahren so unerhört vorgeschrittenen Gewerbethätigkeit und Weltverkehr, die ganz ruinirt werden, wenn England unsre Häven bloquirt und wodurch Tausende in Elend und Armuth versinken. Schon in diesem Augenblik, wo man ein Zusammengehen mit Rußland noch für unmöglich hält, stoken alle Geschäfte bei der Ungewißheit der Richtung die wir nehmen werden. Würde diese Stokung allgemein und dauerndh, so würden Aufstände wegen Nahrungslosigkeit die unmittelbare Folge sein. Aber die göttliche Vorsehung scheint durch solche Krisen die Welt von Zeit zu Zeit aufrütteln zu wollen, um die Völkeri zu belehren, daß sie, wenn sie sich der Schlaffheit und dem Sinnengenuß hingiebt, ihre ganze Existenz verloren ist. Vor allen Dingen soll jedes Volk auf seine Existenz und seine Ehre halten! wie die Jungfern auf ihre Keuschheit. Dieses Nationalgefühl bildet den Pranger gegen jede Gefährdung seiner Existenz, ihrer sittlichen und geistigen Existenz. Ein auf die Länge unterjochtes Volk wird niederträchtig, wie ein Mädchen das sich zur Hure hergiebt. Wie gesagt, die Spannung hier ist groß, in diesen Tagen wird sich unser Verhältniß zu Oesterreich entscheiden.

Unser Freund Weiß ist mit der Chamissoschen Familie befreundet. Der junge Chamisso, stud. medicinae und der Naturwißenschaften geht in einigen Tagen nach Würzburg, um den Sommer dort zu hören und sollte an Dich empfohlen werden, da er zugleich ein großer Verehrerj der Botanik ist. Er reist über die Stadt Plauen im Vogtlande, k die nahe an der Eisenbahn nicht weit von Schleitz liegt. Dorthin schike ihn doch noch vor Deiner Abreise und bald den Lektions Catalogus für dieses Sommer halbe Jahr unter Kreuzband. Er wird in

Plauen bei seinem Schwager dem Rektor des Gymnasiums Herrn Palm logiren und Du hast also den Lektionskatalog dahin zu addreßiren. Für heute genug. Glükliche Reise nach Ziegenrück, wo Du große Freude machen wirst! Wir freuen uns unendlich auf Dich. Dein Dich aufs innigste liebender Vater Hkl

Adolph Schubert, der eben bei uns war, grüßt Dich aufs herzlichste, er reist noch vor Ostern auf sein Gut ab. Herrn v. Chamisso habe ich Dein jetziges Quartier empfohlen; ist es auch nicht das Beste, so ist es doch auch nicht schlecht. Er wird in District II N. 137 vorsprechen.l

[Nachschrift Charlotte Haeckels]

Mein lieber Herzens Ernst! Da ich nun bald die Freude haben werde, Dich bei uns zu sehen, so erhältst Du schriftlich nur noch einen Gruß von mir, grüsse in Ziegenrück alle, reise glücklich und komme gesund und frisch zu

Deiner Mutter.

a eingef.: schon; b gestr.: herzlich; eingef.: aufs innigste; c gestr.: wieder; d eingef.: u. dauernd; e gestr.: von; f korr. aus: willenslos; g gestr.: nur; h eingef.: und dauernd; i eingef.: Völker; j irrtüml.: Verehrung; k gestr.: we; l Nachschrift am linken Rand von S. 1: Adolph Schubert … vorsprechen.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
29.03.1854
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36004
ID
36004