Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 25. Januar 1860

Berlin 25 Januar 60.

Mein lieber Ernst!

Deinen letzten Brief, worin Du den botanischen Garten in Palermo beschreibst, haben wir mit großem Intereße gelesen, Du hast also doch einen Vorgeschmak von der Tropenwelt gehabt und sie ist Dir nicht fremd: eine Zeit lang in den Tropenländern selbst zu leben, würde Dich jetzt, wo Du Dich zu Deinem zoologischen Beruf vorbereiten sollst, zu weit abführen und ich kann Dir auch die Mittel dazu nicht gewähren. Es ist die große Frage: ob Du einen längern Aufenthalt auf dem Tropenfestlande oder eine der Inseln (Java, Ceylon) erreicht haben würdest, wenn Du mit der Expedition nach Japan gegangen wärest, die überdem die a Ausbildung für Deinen speciellen Beruf noch auf Jahre hinausgeschoben haben würde. Laß Dir also mit dem Vorschmak mit dem Butera Garten und mit Deiner italienischen Reise genügen. Man kann auf dieser Erde nicht alles zusammen haben. Solche Auserwählten, wie A. v. Humbold, der doch auch Indien, Tibet und den Himalaya nicht gesehen hat, giebt es nur Wenige. – Deine Anna ist nun wieder bei ihrer Mutter, Schlaf und Appetit sind noch schlecht, doch meint Quinke, habe es sich schon etwas gebeßert. In diesem Augenblik erfahre ich, daß Anna vorige Nacht 5 Stunden geschlafen hat, das ist seit 4-6 Wochen nicht der Fall gewesen. Wir leben hier in gewohnter Weise fort, still und nur mit der Familie verkehrend. Wir haben viel über Schiller gelesen, was uns sehr angezogen hat. Er war doch ein prächtiger Mensch. Vor einer Stunde erhielt ich einen Brief vom alten Wiek aus Leipzig, der mir lange nicht geschrieben hast. Er ist ganz verschieden vom verstorbenen Simon. Aber beide streben nach dem Höchsten, jeder auf seine Art. – Wiek ist die Sittlichkeit das Höchste, sie ist zugleich die Religion, sie ist ihm die Erkenntniß und Verehrung Gottes durch strenge Befolgung des Vernunftgesetzes in uns. Diese letztere verlangte Simon in derselben Strenge und übte sie auch in seinem Leben, nur war sie ihm personificirt im Christenthum. Wir Menschen können das Höchste, jeder nur auf seine eigene Weise darstellen und so achte und verehre ich jeden, in dem ich ein wahrhaftes Streben nach der Darstellung des Göttlichen erkenne. So steht mir auch Schiller sehr hoch, wenn er auch die Anschauung des Christenthums, wie sie sich seit 50 Jahren ausgebildet hat, nicht gehabt hat. Er hat aber das klare Bedürfniß, dass b die Religion in dem Sinne, wie sie Schleiermacher auffaßte, wieder ein Allgemeingut werden müßec und bezeichnete schon damals Schleiermacher als den möglichen Verkündiger. – Die kurzen Tage haben auf die Eintheilung der Zeit großen Einfluß, man lebt mehr in der Nacht als am Tage, alle Hauptfunktionen werden mehr in die Nacht verlegt. Jetzt nehmen die Tage mehr zu und sod ist auch das Tagesleben mehr im Wachsen. Der Husten hat mich Wochen lang sehr geplagt und mich sehr herunter gebracht, ich durfte Abends nicht ausgehen und mußte den Besuch des Collegii aussetzen. Jetzt gehe ich wieder ins Colleg (Nachmittags 5 Uhr) und bin dadurch in das Studium der französischen Revolution hineingerathen, was ungemein lehrreich ist. Karl wird sich wohl nächstens wieder sie einmal sehn laßen. Mutter besuchte am Sonntage seit langer Zeit Bertha, die sich wieder sehr erholt hat, wieder einmal und wir aßen dann bei Minchen zu Mittag. Das hatte aber Mutter doch sehr angegriffen, so daß sie es ein Paar Tage fühlte. Sonst ist Mutter geistig munter, Ottilie ist ihr behülflich und so kann sie sich schonen. Das Wetter ist fortdauernd sehr milde, meist um den Gefrierpunkt. In den Mittagsstunden gehe ich im Thiergarten spatziern. Vorgestern aß die Geheime Räthin Weiss bei uns, sie grüßt Dich aufs Herzlichste. Auch bin ich bei Virchow gewesen und habe ihm Deine Abhandlung überbracht. Er läßt Dich bitten und es ist ihm sehrf daran gelegen, etwas Sicheres darüber zu erfahren, ob sich die Lepra (der Aussatz) in Unteritalien zeigt? und auf welche Weise? Du möchtest doch durch Rüksprache mit Aerzten hierüber ins Klare zu kommen suchen. Zu Braun werde ich in diesen Tagen gehn und ihm deine Abhandlung bringen, ihn auch von Deinem Besuch des Butera Gartens in Kenntniß setzen. Mutter grüßt Dich aufs herzlichste.

Dein dich liebender Vater Haekel

a gestr.: speciell; b gestr.: auch; c eingef.: müße; d eingef.: so; e eingef.: am Sonntag; f eingef.: sehr;

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
25.01.1860
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Messina
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35993
ID
35993