Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 20. Februar 1860

20 Febr. 60.

Mein lieber Ernst!

Heute muß ich Dir doch ein Paar Worte schreiben, da ich es vorige Woche nicht gethan. Mutter befindet sich fortdauernd recht wohl, nur muß sie fortdauernd viel auf dem Sopha liegen doch geht sie bei gutem Wetter auch spatzieren. Wir haben hier etwas Winter, es schneit fast täglich ohne große Kälte. Adolph Schubert ist viel bei uns, auch gehe ich mitunter in Gesellschaft. In den Kammern sind bedeutende politische Kämpfe über das Ehegesetz und die Grundsteuer. Die Gesundheit des Königs scheint fortdauernd langsam im Abnehmen zu sein. – Abends lesen wir geschichtliche Darstellungen der gesellschaftlichen a deutschen Zustände im Zeitalter der Reformation. Um 5 Uhr Nachmittags besuche ich fast täglich die Vorlesungen Droysens über die französische Revolution, die sehr gut sind. So vergeht die Zeit schnell. Karln erwarten wir zum Sonnabend.

Was nun Deine Rückreise betrift, so haben Mutter und ich nach reiflicher Ueberlegung einen bestimmten Entschluß gefaßt und zwar dahin, daß Du nicht über Paris zurückreisest. Du würdest, wenn Du auch nur 14 Tage in Paris bliebest (und das wäre doch das wenigste) doch alles nur sehr oberflächlich und unvollkommen, vieles aber gar nicht sehen. Dazu kommt, daß Du inzwischen durch deine Schriften noch bekannter werden mußt und daß Du dann einen viel größeren Genuß in Paris haben wirst, wohin Du doch einmal reisen mußt. Daß mit dieser italienischen Reise dein Reisen absolvirt sei, ist gar nicht anzunehmen. Ein Naturforscher muß von Zeit zu Zeit reisen. – Vor einigen Tagen traf ich bei D. Barth einen österreichischen Zoologen Namens Smardab, der längere Zeit in Ceylon und in Südamerika gewesen und Deine Abhandlung über die Augen der Seesterne gelesen, die ihm sehr gefallen hatte. Du wirst ihn im April noch treffen und er wünscht, daß Du ihn besuchst. Ich nehme nun an daß Du Anfangs April in Messina abreisest, dann kannst Du zu Ostern hier sein. Du gehst von Lyon nach Genf, Basel etc. oder über Lindau, wie Du willst. Anna, deren Gesundheit sich sehr gebeßert hat (sie kann wieder eßen und schlafen) soll mit ihrer Mutter schon im Mai nach Heringsdorf gehen und den Sommer über dort bleiben. Auch darum ist es wünschenswerth, daß Du zu Ostern zurückkommst.c Tante Bertha hat sich wesentlich gebeßert. Sie wird nächstens wohl wieder ausfahren. Mein Husten hat sich auch sehr verloren und ich kann wieder spatzieren gehen, doch spüre ich sehr das zunehmende Alter. Abends bin ich am liebsten bei Mutter im Hause, da plaudern und lesen wir. Die Geheime Räthin Weiss läßt Dich grüßen, sie nimmt wieder mehr Theil am Leben und besucht ihre nähern Freunde zuweilen. – Richthofen ist nach Wien gereist, um dort Abschied zu nehmen. Von da wird er gegen Ended April nach Triest gehen und dort mit dem Graf Eulenburg zusammentreffen, um die Reise nach Japan anzutreten. – Der Winter ist bei uns nicht streng, aber ungemein wunderlich gewesen, bei Schnee bald Regen. Nun haben wir schon längere Tage und das Schlimmste ist überstanden. Ich sehne mich sehr nach dem Frühling und wir alle freuen uns ungemein auf Dich. – Ich lese, gehe spatzieren, mache gegen Abend Besuche nach dem Collegii und bin gern in unsrer Familie. Das Familienleben ist doch eine schöne Sache. – Die Weltereigniße entwickeln sich langsam, so z. B. unsere Repräsentativverfassung unter großen Kämpfen, aber immer geht es allmählich vorwärts. Wie ganz anders ist die Welt seit 50 Jahren geworden, welche ungeheuren Fortschritte haben wir gemacht! Die innern Kämpfe im Staat sind freilich oft sehr unangenehm für diejenigen, die daran Theil nehmen. Aber es hilft nun einmal Nichts, sie müßen durchgemacht sein. Während der Reaktion in den letzten 10 Jahren sind unsre Junkers ganz toll geworden und es läßt sich gar nicht mit ihnen umgehn, sie sind halb verrückt und nur die Zeit kann wieder beßre Zustände herbeiführen. Inzwischen bekämpfen wir uns im Innern auf Tod und Leben. In Freyenwalde ist Alles munter. Deinen Geburtstag am 16ten haben wir Mittags bei uns gefeiert und lebhaft auf Dein Wohl angestoßen. Minchen mit ihren Kindern waren Mittags bei uns. Anna durfte aber nicht lange bleiben, um sich nicht zu sehr aufzuregen. Sie gieng mit ihrer Mutter schon Abends 6 Uhr wieder nach Hause. Carl hatte in e einem besondern Schreiben an uns auch sein Herz und Glückwunsch ausgeschüttet. Die herzlichsten Grüße von Mutter.

Dein dich liebender Vater Hkl

a gestr.: Zu; b irrtüml.: Schmarda; c mit Einfügungszeichen eingef.: auch darum ist...Du Ostern zurückkommst; d gestr.: den; eingef.: gegen Ende; e gestr.: seinem

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
20.02.1860
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35991
ID
35991