Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 7. Dezember 1859

7 Dcmb. 59.

Mein lieber Ernst!

Aus Deinem letzten Briefe haben wir erst sehen, wie Du deine Zeit zubringst. Ich denke mir Dich Abends immer mit der schriftlichen Ausarbeitung deßen, was Du am Tage mikroskopirt hast, beschäftigt. Nun der Winter wird auch vergehen. Hier hat er vor einigen Tagen ganz ordentlich begonnen, wir hatten 5 Grad Kälte, nun ist der Thermometer wieder auf Null a gegangen. Ich habe schon einige Tage den Pelz getragen. Auch hierinn erkenne ich mein vorscheitendes Alter, sonst wartete ich wohl 7-8 Grad Kälte ab. Ich besuche 5 Mahl die Woche Droysens Collegium über die französische Revolution. Er gibt jetzt noch einen Ueberblik der europäischen Zustände vor dem Ausbruch der Revolution, die Theilung Polens, die Sich-Freimachung Nordamerikas etc. Die englischen Zustände waren in diesem Zeitpunkt über die Maßen elend, noch elender als bei uns in den Jahren 1850/58. Doch hat sich England wieder herausgearbeitet. Es kommt alles darauf an, ob noch ein innrer Fonds in der Nation ist? Ist dieser da, so vermag sie sich auch aus den Krisen herauszuarbeiten. Bei den Polen war dieses nicht der Fall, sie waren durchaus verdorben und keiner wahrhaften dauernden Aufopferung für das Vaterland fähig. In der persönlichen unbedingten Willkühr suchte Jeder die Freiheit, darum giengen sie zu Grunde. Hoffentlich wird es in Deutschland beßer gehen, wenn wir wieder heimgesucht werden. Das Schillerfest hat doch gezeigt, daß sich die Deutschen noch als Nation fühlen und wißen, worinn ihre Individualität liegt. Sie hat ihren großen Dichter aufs Herrlichste geehrt. Ich war vor einigen Tagen b bei Partey, der vor einigen dreißig Jahren Sicilien ebenfalls bereist hat. Er meinte: Jedes Volk habe in seiner Art zu leben, einen richtigen Instinkt, aus der Erfahrung entnommen. Du solltest also der dortigen Sitte folgen: im Winter nicht zu baden. Es könnte von üblen Folgen für Dich sein. Folge also unserm Rath und unsrer Bitte und bade im Winter nicht. Mich selbst beängstigt dieses Baden und ich denke dann: wir könnten uns nicht wiedersehn. Das könnte auch auf andre Weise geschehen, wenn ich schnell stürbe. Also folge uns. Mutter wünscht es ebenfalls sehrc. Auch mußt Du nicht bei offnem Fenster schlafen. Schreibe uns doch: ob Du etwas einheitzest, Kaminfeuer hast? und wie sonst das Wetter ist. Wir haben hier keine klare Vorstellung davon. Mit Mutter ist es beim Alten.

Dein Dich liebender Vater

Haekel.

a gestr.: herunter; b gestr.: in Sici; c eingef.: sehr;

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
07.12.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35987
ID
35987