Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 6. November 1855

Berlin 6 Novemb. 55

Lieber Ernst!

Gestern sind Deine Briefe nebst Weintrauben bei uns eingegangen. Letztere sind sehr schön und wir haben sie uns schon recht schmeken laßen. Daß Dir Deine jetzigen Beschäftigungen auf die Alpenreise nicht recht schmeken wollen, kann ich wohl glauben. Der Anblik der Alpenwelt hebt uns so ganz über unsern gewöhnlichen Gesichtskreis und ich werde die Gefühle und Anschauungen nie vergeßen, die ich auf dem Rhigi hattea, als ich aus dem Walde auf das Wiesenplateau bei Rhigi Staffel trat und nun die vielen zakigen Eishörner auf der einen sah und dann auf der andern einen Blik in den 4 Waldstättersee that, der mit den ihn umgebenden Alpenpyramiden (insbesondere dem Pilatus) wie eine neue Zauberwelt vor mir lag. Ich werde ferner, als ich circa 14 Tage später wieder auf den Rhigi kam und bei Tagesanbruch und aufgehender Sonne die ganze klare Alpenwelt überblikte, nie des Gefühls vergeßen, das sich meiner bemächtigte, so daß ich mir vorkam, als stehe ich hier der Gottheit näher und als habe ich einen großen Theil meines irdischen Lebens von mir geworfen. Solche Momente des Lebens sollen aber auch nur Erhebungspunkte sein, die uns auf den innersten Kern unsers Daseins verweisen und uns ein Vorgefühl deßen geben, was wir dereinst sein werden. Hier auf Erden können wir uns dem täglichen Verkehr nicht entwinden, er soll nur durch ein höheres Gefühl belebt und gewißermaßen geheiligt werden und wir können nicht mit einem gewaltsamen Sprunge ins Ewige Leben versetzt werden. – Also kutschire nur immer wieder in der Wirklichkeit fort und suche Dich wieder in sie zu finden. Hätten wir jene höhern Anschauungen und Augenblike nicht, so würde uns das ganze Erdenleben unverständlich bleiben. Mir wird die Bedeutung deßelben noch auf andre Art anschaulich. Ich bin alt geworden, habe das Stadium des Lebens verlaßen, wo man handelt, ich gebe eigentlich nur noch den Zuschauer ab. Ich sehe unter mir zunächst die eigentlich wirkende Generation, sodann die aufkeimende Jugendwelt, die wiederum in die Fußstapfen der letztern tritt aber immer noch weitergeht. Schon jetzt erkenne ich in der jetztb wirkenden Generation eine andere Welt, als die, der ich entsproßen bin und sehe in alle diesem den fortlaufenden Geist der Weltgeschichte. Das gibt ein großes Bild der Vergänglichkeit einerseits, aber auch eines fortdauernden Treibens eines höhern Geistes andrerseits. Die Kürze des Lebens des einzelnen Menschen, seine Unvollendung, seine kurze Wirksamkeit, sein schnelles Verblühen erinnert an ein künftiges, vollendeteres längeres Dasein und mein eignes Dasein gleicht sehr dem der Blume, die wächst, aufblüht, eine Zeit lang in Blüthe steht und dann allmählich verwelkt. Nur nehmen wir Menschen eben das Bewußtsein einer höhern künftigen Erhaltung mit hinüber, das ist das Zeichen der göttlichen Abkunft unsers Geistes. – Du wirst bei Deinen naturgeschichtlichen Forschungen bei der Erkenntniß der innern Organisation der Körperwelt noch ganz andre Erfahrungen machen und noch viel entschiedener auf den Geist, der diese Welt trägt und die Gottheit, die in ihr waltet, hingewiesen werden und dazu wünsche ich Dir Glük, falls Dir Gott ein längeres Leben beschieden hat. Man muß eine ganz andre erweitertec Weltsicht gewinnen, wenn man eine Tour rund um die Erde gemacht hat, so wie mir durch das Studium der Geschichte, durch eine lange Reihe von Jahrhunderten hindurch vieles viel begreiflicher geworden ist, als es denen sein muß, die diese Geschichte nicht kennen. Das Leben der Menschheit ist es, was ich in ihr zu erkennen und zu verstehen suche und die bornirten leidenschaftlichen Bestrebungen der Alltagsmenschen (in der Politik z.B.) kommen mir ganz jämmerlich vor. Ich meße aber auch nicht nach Jahren, sondern nach Generationen und frage mich nur: in welchem Stadio der Entwikelung sich unser Volk befindet? Dann beruhige ich mich über viele Erscheinungen, die uns, wenn man sie außer dem Zusammenhang der Entwikelung betrachtet, zur Verzweiflung bringen können. ||

Ich bin in Kiel gewesen und habe Adolph Schubert mit gebracht, der bei uns wohnt und Dein künftiges Quartier bezogen hat: Adolph würde Dich auch als Mediciner intereßiren. Seine Krankheit sitzt in den vom Gehirn ausgehenden Nerven. Dort ist eine unnatürliche Reitzbarkeit und Schwäche, die ihn gegen die Erscheinungen der Außenwelt sehr empfindlich macht und seine Einbildungskraft mit Vorstellungen umgiebt, die ihn mitunter beängstigen. Er ist durch den Genuß der bloßen Ruhe in der Anstalt, in der er 1¼ [Jahr] gewesen, sehr vorgeschritten und hätte sehr wohl gethan diesen Winter erst noch in der Anstalt zu bleiben und sich dann in die Ruhe des Landlebens durch die Bewirthschaftung seines Gutes zu begeben. Dazu hat er aber keine rechte Lust und will nun diesen Winter hier versuchen, wie es ihm bekommen wird. Er wird sich sehr still und zurükgezogen halten, hat auch noch viel Menschenscheu, ist sich aber seiner Zustände durchaus bewußt, beobachtet sie, spricht über sie und d scheint nur in Einem Punkt sich von gewißen falschen, eingebildeten Vorstellungen noch nicht los machen zu können, obwohl auch diese sich schon verändert haben. Das Zusammensein mit so vielen Gemüthskranken in der Anstalt, e wovon diejenigen, die schon in der Genesung begriffen waren, seine eigentliche täglich Gesellschaft bildeten, hat ihn zu einem völligen Verständniß dieser Krankheiten gebracht, so daß sie zusammen darüber sprachen und reflektirten und die Stadien der Genesung verfolgten. Ruhe und Einsamkeit sind die Hauptmedikamente, durch welche sie wieder hergestellt werden. Die Tollsten werden anfänglich Monate lang in Zellen gebracht und kommen dadurch allmählich zur Besinnung, sie dürfen nichts lesen, das Ennyement muß sie kuriren, falls sie überhaupt kurabel sind und es zeigen sich da die auffallendsten Veränderungen, f die Anstalt ist eine wahre Schule der Psychologie. –

Seit 10 Tagen ist nun Mimi mit den Kindern hier, der kleinste 4 monatliche ist ein prächtiger Junge. Karl bringt nur einzelne Worte heraus, ist aber sonst verständig und ergötzt sich an den Hottos, die jeden Augenblik vor unserm Platz vorbei paßiren. Wir befinden uns sehr wohl in unserm Logis, welches sehr freundlich und bequem ist. Seit 6 Tagen haben wir ächtes November Wetter Nebel und Nässe. Die Gänge in die Stadt, die ich täglich zu machen habe, erhalten mich auf den Beinen. Abends nach 8 Uhr bin ich dann müde, ruhe auf dem Sopha, wir schwatzen und lesen dazu. Die viele Bewegung muß mich gesund erhalten und den starken Andrang des Bluts nach dem Kopf und Neigung zum Schwindel in Schranken halten. Ich gehe öfters am Kanal hin durch die Bendlerstraße und den Thiergarten in die Stadt. Weiss besuche ich öfters. Hannchen Weiss in Skeuditz (die Frau des Diakonus) ist plötzlich an einem Herzfehler gestorben. Die Frau Profeßor Weiss ist einige Tage da gewesen, hat ihn sehr betrübt, aber doch gefaßt gefunden. Eben so ist die älteste Fräulein Seebeck (die Kranke) vorige Woche gestorben, nicht an ihrem Herzfehler, sondern an einem gastrischen Fieber, 60 Jahr alt, voll Bewußtsein und Ergebung, für g ihre Umgebungen eineh wahrhaft stärkende Erscheinung. –

Vorgestern ist demi Johannes Müller von den Profeßoren der Universität ein Diner zur Freude über seine Errettungj von der großen Gefahr gegeben worden, wobei auch Humbold gewesen und wo [es] sehr munter hergegangen. Weiss und Beirich waren auch da gewesen. An Toasten hatte es nicht gefehlt. Dein Freund Weiss läßt sich herzlich grüßen. Er gefällt sich ganz gut hier. Lachmann ist noch nicht bei uns gewesen, und kann erst kürzlich zurük sein. –

Ueber uns wohnt eine Dame, die sehr schön singt und der ich öfters zuhöre. Die Töne haben mich auch über diesem Brief schreiben etwas gestört. –

Bertha geht es ganz gut. Hℓ. Weber habe ich in Hamburg einen Augenblik besucht, ich bin nur 1 Tag in Kiel geblieben. Bei Deiner Reisebeschreibung sind uns die Kupferstiche, die Du uns von den schönsten Parthien geschikt hast, von großem Nutzen. Wir lesen sie mit Intereße, sie müßen mit dem Fortschritt der Reise immer intereßanter werden. Schike bald wieder eine Lieferung. Adolph grüßt Dich herzlich. Dein Dich liebender Vater

Hkl

a eingef.: hatte; b eingef.: jetzt; c eingef.: erweiterte; d gestr.: weiß; e gestr.: der; f gestr.: eine; g gestr.: den; h eingef.: eine; i eingef.: dem; j korr. aus: Erhaltung

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
06.11.1855
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 35968
ID
35968