Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 18. Juni 1856

Mittwoch, 18 Juni 56.

Lieber Ernst!

Nun will ich fortfahren. Zuförderst bin ich der Meinung, daß Du diesen Sommer, wenn es Dir nützlich a und es vernünftig ist, ganz ruhig bei Virchow aushältst. Nur eines bitte ich Dich, Dich sehr beim Seciren in Acht zu nehmen, daß Du Dich nicht etwa anstekst, wenn Du Cadaver, die an bösen Krankheiten gestorben sind, vor Dir hast; besonders in den heißen Sommertagen. Dein dortiges Engagement betrachte ich als einen Durchgangspunkt, der Dir zu Deiner weitern Entwikelung sehr förderlich sein wird. Nicht die Annehmlichkeit mußt Du in Betracht ziehen, sondern die Nützlichkeit für Deine Ausbildung. Ich bin daher auch ganz ruhig darüber, daß Du dieses Engagement angenommen hast und die Zeit dieser Prüfung wird schnell vorüber gehn. Auch ist es doch ein großer Gewinn, daß Du unter Leitung eines so tüchtigen Mannes Deine Studien fortsetzt. Ueber das verlorne Saksche Promotionsstipendium gräme Dich nur nicht zu sehr. Es ist immer noch möglich, daß Du noch etwas davon bekommst. Denn es läßt sich jetzt noch nicht übersehen, inwiefern esb für die spätern Erhöhungen, zu denen auch die 400 rℓ. gehören, zureichen wird. Auch müßen wir sehr zufrieden sein, daß Du das volle Stipendium 3 Jahre gehabt hast. Deine Bilder sind ja sehr hübsch und haben mir Freude gemacht. Daß Du Dich in Dein anatomisches Leben so hineinfindest, ist ja sehr schön. Du siehst, was der Mensch alles prästiren kann, wenn er nur ernstlich will. Alles hat seine Zeit im Leben und so kommt es auch der Jugend zu, Erfahrungen zu machen. || Wenn Dich das Gefühl der Jugendkraft in die Weite hinaustreibt und Dich mitunter kriegerische Anwandlungen ankommen, so finde ich dies sehr natürlich. Ich habe sie auch gehabt. Es ist ein schönes Gefühl und ganz dazu angethan, den Menschen für das Leben wirksam zu machen. Ich finde es ganz natürlich, daß Du hinaus in die Welt willst und wir Eltern sollen dieses nach unseren Kräften befördern. Gottes schöne Welt ist ein vor uns liegendes verschloßenes Wunder. Aber was machen die Menschen aus dieser Welt! Sie verunstalten sie durch Unverstand, Leidenschaft und Vorurtheil! Wenn man sieht, wozu ein misverstandenes Christenthum führt, so möchte man ganz außer sich werden! Da soll es eine Sünde sein, seine Kräfte auf alle Weise zu entwikeln, da sollte man immer hinter dem Gebetbuch sitzen, seine Sünden bereuen und sich in Schlaffheit und Unthätigkeit verzehren. Wenn man hier die orthodoxen Christen, ihr Thun und Treiben sieht, dann glaubt man: Die Welt ist verrükt geworden! und in dieser Richtung befindet sich bei uns die in Staat und Kirche herrschende Parthei. Wir befinden uns in der vollständigsten Reaktion gegen die Nüchternheit des vorigen Jahrhunderts und in einer sich süßlich beschauenden jämmerlichen Schlaffheit. Dieser Zustand ist zu unnatürlich als daß er von langer Dauer sein könnte. Wir werden wahrscheinlich aus dieser Agonie sehr unsanft aufgerüttelt werden und wieder zum Handeln genöthigt. Von dem ehrlichen kräftigen Kampf gegen die Leidenschaften wollen diese Menschen nichts wißen. Diese sindc das Spiel des Teufels! sagen sie, welchen die göttliche Gnade ein Ende machen muß. Keine eigene Zuversicht, kein selbständiges Handeln kann dem Menschen helfen, nur Gnade und immer Gnade und diese wird schon kommen, wenn der Mensch seinen äußerlichen, religiösen Hocuspocus treibt, übrigens aber die Hände in den Schooß legt. Umgekehrt grade: Der Mensch muß alle seine Kraft zusammen nehmen und darinn aushalten, dann giebt auch Gott seinen Segen. Er erwekt dann im Menschen ein innres göttliches Gefühl, welches ihm alles Gemeine und Schlechte zuwider macht. Mit nichts wird jetzt größerer Misbrauch getrieben als mit dem Christenthum. Vor allem thun dieses die, welche die äußere Macht in den Händen haben und die verdekt hinter ihnen stehen. Das Christenthum soll aller Willkühr der Herrschsucht dienen und wer sich ihm nicht unterwirft, ist gottlos. || Dabei ist das, was von unsrer Jugend zu Tage kommt, so schwächlich und d erbärmlich und unnatürlich, daß einem ganz widerlich wird. Die jetzt beginnende Generation, die so eben e das Knabenalter zurükgelegt hat, scheint eine sehr schwächliche zu sein. Das Gefühl, was Dich und Bekmann belebt, ist dagegen gesund und natürlich. Aber, wenn die jungen Leute jetzt aufduken wollen, so werden sie in Empfang genommen von jämmerlichen Philistern, die sie in ein Leben voll Schlaffheit, Jämmerlichkeit und Heuchelei führen. Daß ich noch diesen Umschwung erleben sollte, hätte ich nicht gedacht. Wie frisch und kräftig war unsre Jugend, als vor einigen 40 Jahren die Freiheitskriege begannen. Aber es ist jetzt nicht sowohl eine zu jenem allmählichen Leiden führende Abzehrung, als vielmehr ein bis zur Verrüktheit gehender Paroxismus, der die Menschen in Feßeln und Banden hält, ganz ähnlicher Art wie die Raserei der Demokraten f in den Jahren 1848/49, in der auch viel schlechtes zu Tage kam, nur daß diese sich schneller von selbst verzehrte, der gegenwärtige aber stier hinzusieht und die Hände in den Schooß legt und nur in Heuchelei tändelt. Da suche ich mir bei solchen ekelhaften Erscheinungen den Kern des wahren Christenthums zurecht zu legen. Wenn in der verdorbenen römischen Welt die ersten Christen sich zurükzogen und nur an jene Welt dachten, so finde ich dieses natürlich. Das Christenthum weist uns auf ein beßres Leben jenseits hin, worin weniger die irdischen Leidenschaften werden gezählt werden. Aber das Reich Gottes soll auch schon hier auf Erden sichtbar werden. Durch alle irdischen Geschäfte und Thätigkeit soll ein höheres geistiges, sittliches, Zucht und Ordnung erhaltendes Leben hindurch schimmern. Der Uebergang von der letzten römischen Zeit zu einem christlichen Leben in ganzen Völkern war nicht so schnell, und als das Christenthum unter den germanischen Völkern sich auch äußerlich wirksam und gestaltend zeigen wollte, ging es ohne heftige Kämpfe nicht ab. Die rohe Kraft der Germanen mußte durch die Geistlichkeit gezügelt werden. Dies war die Bedeutung des Mittelalters und die Zügelung wurde möglich, weil der gesunde Kern des Christenthums auch mitten unter aller Veräußerlichung seine Zweige trieb und die Reformation erzeugteg. Nun die Rohheit meist beseitigt ist, soll auch das neuere Christenthum ohne priesterliches Gewand wirken und Früchte bringen. || Da möchte man uns aber lieber wieder das Gewand des Mittelalters umhängen.

– Ich höre fleißig bei Ritter über Europa. Er hat uns den Ural mit seinen Metallschätzen und die Karpathen mit ihrem Salinenreichthum geschildert. Der Ural und Kaukasus sind die natürlichen Grenzen Asiens und Europas. In einem großen Theil Europas, besonders im nordwestlichen, herrschen die feuchten milden Nordwestwinde, die vom Atlantischen Meer herüber kommen und der mexikanische Golfstrom macht die Küsten Europas mild. h Im östlichen Europa, bei Moskau etc. wo der große Continent beginnt, wird das Klima trokner, im Sommer heißer, im Winter kälter. Rußland hat in seinem Innern eine i große Bewäßerung, ein ungeheures Kanalsystem, gespeist durch die nördlichen Seen, in deren Nähe die Quellen derj Wolga (der größte europäische Fluß), des Dnjepr, Don und Düna entspringen. Eine Diagonale vom Kaukasus über die Krim, Karpathen, Sudeten, ein Theil des Erzgebirges, über den Harz und den Teutoburger Wald bis Münster gehend scheidet Europa in 2 große Hälften, die der Niederung und der Bergländer. Von letztern wird Ritter erst später sprechen. – Carl ist vor einigen Tagen hier gewesen, wir freuen uns immer sehr, wenn er und die Seinigen hier sind. Ich versorge ihn mit Büchern zu historischen Studien, zu denen er jetzt mehr Zeit hat. Er wird gegen den 9ten August nach Heringsdorf gehen und dort in der See baden. Wir reisen künftigen Dienstag oder Mittwoch nach Nenndorf. Von dort sollst Du bald Nachricht haben. – Die Frau Pastorin Steudner aus Petersdorf hat uns heute besucht. Sie logirt bei Weissb und erzählte uns, daß der Steudner, den Du aus Würzburg kennst in fremde Länder geht, um botanische Schätze zu suchen und zu sammeln.

– Adolph Schubert schreibt uns heute aus der Gegend von Kopenhagen. Seine Gesundheit hat sich sehr gebeßert, er reist ganz allein, geht auch leicht unter Menschen und will sich in den Vorstädten von Hamburg und Altona auf einer Villa niederlaßen, hat der Botanik und Musik Geschmack abgewonnen, mit denen er sich künftig beschäftigen will. Ich will nun erst hören, was der alte Jessen dazu sagt, von dem ich dieser Tage Antwort erwarte. Adolph hat sein Gut in Schlesien verpachtet. – Tante Bertha geht es wieder beßer, sie sitzt nun am Tage auf dem Stuhl. Die Stettiner sind in Carlsbad, Christian scheint in der Beßerung zu sein und Anna ist entzükt von der Gegend. Philipp Bleek hat in Neu-York eine brillante Kur gemacht, er hat einen Stein in der Blasel glüklich operirt an einem Arbeiter, der nun wieder an sein Tagewerk geht. Wilhelm lebt viel unter den Mißionaren im Kaffernland und studirt dort ihre Sprachen. Oncle Julius mit Frau geht gegen Ende Juni nach Heidelberg und von da nach Bonn.

– Kathen war heute hier, er grüßt Dich herzlich, seine älteste Tochter Sophie wird sterben, sie hat Knoten in der Lunge. Wir haben hier fruchtbares, warmes Wetter, öfters Gewitter, die Saaten stehen schön.

Dein Alter Hkl.

Grüße Bekmann recht herzlich von uns, es freut mich, daß Du einen so tüchtigen Menschen zum Gefährten hast, dem Du Dich mittheilen kannst.m

a gestr.: ist; b eingef.: es; c gestr.: Das ist; eingef.: Diese sind; d gestr.. wi; e gestr.: ins; f gestr.: vor; g eingef.: und die Reformation erzeugte; h gestr.: Hinter; i gestr.: ungehe; j eingef.: Quellen der; k gestr.: Eich; eingef.: Weiss; l eingef.: in der Blase; m Nachsatz auf S. 1 unten: Grüße Bekmann … mittheilen kannst.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
18.06.1856
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 35964
ID
35964