Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 5. November 1852

Berlin 5 November 52.

Mein lieber Ernst!

Habe Dank für Deinen letzten mit aller Offenheit geschriebenen Brief und sei auch ferner gegen Deine Eltern, denen Du alles, was Dein Herz bewegt, anvertrauen kannst, immer ganz offen. Dein Zustand hat mich nicht überrascht. Er erklärt sich aus den ganz neuen Verhältnißen, aus Deinem Streben, etwas Ordentliches zu werden und aus Deiner Gewißenhaftigkeit. a Ich habe Quincke gesprochen, er läßt Dir sagen: so wie Dir sei es vielen jungen Leuten gegangen, die hernach ganz tüchtige Aerzte geworden sind. Du mögest nur also getrost in derb betretenen medicinischen Bahn fortschreiten bis zum Doktor. Dann werde es sich ja zeigen, ob Du in das ärztliche praktische Leben übergehen oder c ganz den Naturwißenschaften folgen werdest. Ganz daßelbe haben mir schon früher Ehrenberg, Weiss und Lichtenstein gesagt, sie haben selbst diesen Weg durchgemacht und es ist auch zur Ausbildung Deines Charakters nothwendig, daß Du diesen Weg folgst. Ich kenne recht gut Deine Bedenken von Zeit- und Geld-Verlust, wenn Du auf diese Weise fort und endlich doch zu den Naturwißenschaften übergehst. Aber auch in diesem letztern Fall sind Dir die medicinischen Kenntniße höchst nützlich. Ich habe als ich von der Juristerei zum Kameralfach übergieng, auch manches vergeßen müßen und doch ist mir das juristische Vorstudium mein ganzes Leben hindurch sehr nützlich gewesen. Was ferner den Geldverlust betrifft, so ist es eben aus dem angeführten Grunde kein wirklicher und wenn Du länger studiren mußt, ehe Du einen Broderwerb findest, so haben wir, Gott sei Dank die Mittel dazu. Gehst Du endlich zu den Naturwißenschaften ganz über, so steht Dir schlimmstenfalls immer noch der Wegd der praktischen Chemie offen. Für jetzt thue aber, als ob Du wirklich Arzt werden wollest und mache diesen Kursus durch; zum praktischen Arzt, wenn Dir dann die Sache zuwider ist und Du dazu nicht paßest, sollst Du auf keinen Fall gezwungen werden. Aus dem, was sich Dir jetzt darstellt, kannst Du durchaus noch nicht auf diese Unfähigkeit schließen. Quincke hat mir e mündlich noch viele Beispiele, die dieses bewahrheiten, vorgeführt. Also nur immer auf der begonnenen Bahn frisch und vorwärts weiter. Zersplittere Deine Zeit nicht auf zu viele Gegenstände, dazu bist Du sehr geneigt und übernimm Dich überhaupt nicht im Arbeiten, das schwächt die Nerven, mache Dir ja täglich Bewegung. Theile mir auch etwas mit über das dortige Studentenleben und wie sich die süddeutschen Naturen gegen die Norddeutschen ausnehmen? An Wißenschaftlichkeit werden die süddeutschen Katholiken den norddeutschen Evangelischen nachstehen. An deutscher Gemüthlichkeit und Natürlichkeit aber gewiß nicht. Die Gegend um Bamberg soll eine schönere sein als die um Würzburg, aber wohlfeiler scheint es dort zu sein als in Norddeutschland. So hat alles seine Eigenthümlichkeit. –

Die große Leere hierf, seitdem Du und Karl fort seid, ist uns sehr unangenehm. Es kann aber nicht anders sein und wir müßen uns so gut darein finden als Du in Deine dortigen Verhältniße. Zudem sind jetzt durch die Eisenbahn und Posten die Berührungen und Annäherungen so leicht, daß man sich gar nicht als geschieden betrachten darf. Weiss war hier ziemlich wohl angekommen, g hat sich aber wahrscheinlich unterweges erkältet und isth noch nicht gesund. Sein Bruder der alte Weiss in Merseburg ist krank, wie es scheint, an beginnender Waßersucht und wird wohl nicht mehr lange leben. Er ist 79 Jahr alt; ein Ehrenmann und eine streng sittliche Natur, wie es deren wenige giebt. || Ich vergleiche jetzt den Mohamedanismus und das Christenthum, wie sie sich im Mittelalter in der Geschichte gezeigt haben. Die Araber nahmen ihre Kultur von den byzantinischen Griechen, auch aus Indien und Persien und brachten sie durch die Kreuzzüge und Saracenen in Spanien und Sicilien nach Europa. Mahomed wollte die Anschauung der Einheit Gottes, wie sie unter Abraham gewesen wieder herstellen, er war der entschiedenste Feind alles Götzendienstes. Aber er brachte sehr viel Sinnliches in sein künftiges Leben und durch die unbedingte Ergebung in ein angenommenes Fatum hemmte er die Entwikelung des menschlichen Geistes und Charakters. Darum unterliegen die Muhamedaner der Apathie (besonders die Türken) und in der Bekämpfung der Sinnlichkeit bleiben sie hinter den Christen zurük. Das Christenthum ist der Freiheit günstig und darum der Entwikelung des menschlichen Geschlechts, der Muhamedanismus dagegen dem Despotismus durch seine Ergebung ins Fatum und dadurch tödtet er zuletzt alle Kultur. –

Ich habe mich in den letzten Wochen sehr für die Wahlen zur 2ten Kammer intereßirt. Durch solche Wahlen fühlt man dem Volk an den Puls, ob es Sinn für Freiheit hat? und da sieht es noch ziemlich schlecht aus. So weit man die Sache übersehen kann, ist der Sinn für constitutionelles Leben in den größern Städten vorhanden, der Bauer ist noch zu dumm und erkennt deßen Bedeutung noch nicht, darum ist er bei den Wahlen meist ein Spiel der Junker und der Regierung durch die Landräthe gewesen. Selbst hier in Berlin hat sich die Regierung Einschüchterungen erlaubt, die ans Gemeine grenzen. Doch sind hier die Wahlen zur Hälfte constitutionell ausgefallen und es hat sich mehr Theilnahme für die Verfaßung gezeigt, als man erwartet hat. Wir erwarten nun in diesen Tagen die Nachrichten über den Ausfall der Wahlen in den Provinzen. Hier in Berlin sind der GeneralSteuerdirektor Kühne, der OberPräsident a. D. v. Patow und der Archivarius Riedel aber auch Herr v. Manteufel und einige Ministerielle gewählt worden. j In dem Bezirk, wo Manteufel gewählt wurde, k rivalisirte Patow mit ihm und es gab einen sehr heftigen Wahlkampf, ehe Manteufel die absolute Majorität erhielt. Patow wurde aber gleichzeitig in einem andern Wahlbezirk gewählt. Diese Wahlen haben das Publikum sehr beschäftigt und in Spannung erhalten und da manche Doppelwahlen eingetreten sind (z. B. für Kühne) so wird an manchen Orten noch einmal gewählt werden müßen, was die Spannung noch eine Zeit lang unterhalten wird. Für heute genug, mein lieber Ernst.

Dein

Dich liebender Vater

Haeckel

Grüße Herrn Bertheau.

Wo wirst Du denn das Klavier in Deiner Stube placiren?

a gestr.: gesprochen; b korr. aus: die; c gestr.: Dich; d gestr.: p; eingef.: Weg; e gestr.: noch; f eingef.: hier; g gestr.: ist, h eingef.: ist; i gestr.: ,; j gestr.: Die; k gestr.: spr

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
05.11.1852
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 35962
ID
35962