Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 24. November 1855, mit Beischrift von Charlotte Haeckel

Berlin 24 Novmb 55.

Mein lieber Ernst!

Dein Glückwünschungsschreiben nebst Kistchen sind vorgestern richtig angekommen und sage ich Dir dafür meinen herzlichsten Dank. Während Du 14 Tage an der Hand und Arm gelitten, leide ich seit 14 Tagen an einem Blutgeschwür im Naken was mich sehr incommodirt und seinen gewöhnlichen langsamen Proceß der Eiterung durchmachen muß. Ich hatte ihm in den 4 Wochen kurz vor der Reise nach Kiel eine spanische Fliege a aufgelegt gegen den Blutandrang nach dem Kopf. Ehe dieses ausheilte, reiste ich ab, konnte unterwegs die Wunde nicht recht pflegen und so ist sie schlimm geworden. Es ist Prüfung für meine Geduld, ich darf seit 8 Tagen nicht ausgehen und bin auf schmale Kost gesetzt. An meinem Geburtstage erhielt ich viel Besuch von Freunden und Verwandten, konnte allerdings niemand zu Mittag bitten, wir haben aber Abends sehr traulich beisammen geseßen. Zu meiner großen Freude kam Carl Vormittags unvermuthet aus Erfurt an, wo er als Zeuge den Tag vorher in einer Criminaluntersuchung vernommen worden war und Reisediäten erhalten hatte. Er ist gestern b Abend wieder abgereist und wird in 3 Wochen Ziegenrück verlaßen, definitiv. – Wir haben 2 Tage sehr traulich verlebt und ich habe Gott für alle Wohlthaten, die er mir erzeigt hat, aufs innigste gedankt, besonders daß er mir eine so brave vortreffliche Frau und so liebe Kinder gegeben hat. Wandelt nur fort in der Furcht des Herrn und werdet tüchtige brave Menschen! Die kleinen Enkel machen uns auch sehr viel Freude, Karl ist ganz drollig und bemüht sich in Einem fort, einzelne Wörter herauszubringen und der kleine Hermann ist ein so prächtiges Kind als man nur wünschen kann, so c kräftig, daß er sich aus eigner Gewalt auf dem Bettchen oder der Deke. auf welcher er auf der Erde liegt, umherwälzt, dabei ein liebliches freundliches Gesicht. Mimi ist munter. Sie wird künftige Woche mit den Kindern auf mehrere Wochen nach Stettin [gehen], so daß sie zum 20sten wieder hier ist und dann hoffen wir die Weihnachten recht traulich zu verleben. In unserm neuen Quartier gefallen wir uns sehr gut, die Aussicht ins Freie ist sehr angenehm, wir haben Sonnenseite, die Zimmer liegen alle sehr bequem hintereinander, Mutter kann alles controlliren und Adolph gefällt sich sehr in Deinem Quartier, was Du zu Ostern beziehen sollst. Abends essen wir und sitzen traulich beisammen, denken viel an unsre Kinder und bitten Gott, daß er uns unser Familienglük so erhalten möge. Wir haben jetzt Deine Reisebeschreibung zu lesen angefangen, gestern Abend die Beschreibung von Salzburg, Berchtesgaden und des Watzmann, was uns sehr viel Vergnügen gemacht hat, manchmal finde ich Deine Perioden etwas schwerfällig, weil Du in Eine Periode zu viel zusammendrängen willst. Die Beschreibungen von gestern Abend waren aber leicht faßlich und fließend. Die Besteigung des Watzmann ist doch eine schwere Tour! Nun wir werden in der Regel Abends fortfahren, dabei werden die Reiselandschaften, die Du uns geschikt hast und Deine Skizzen fleißig benutzt, das gehört alles zusammen, um das Bild recht vollständig zu haben. Ich werde die Reise förmlich studiren! –d

Nach Deiner uns mitgetheilten Tageseintheilung für diesen Winter bist Du doch stark besetzt. Ich erwarte, daß Du alle Kollegien, die Du etwa schon vorigen Sommer, ohne sie zu bezahlen, gehört hast und die Du jetzt wieder hörst, dieses Mahl bezahlt haben wirst. Jedem das Seine! auch dem Professor! Eingeschlichene Misbräuche darf man nicht mit machen. Daß ihr den Morawek verloren habt, ist doch recht schlimm, künftigen Sommer wirst Du die chirurgische Klinik hier bei Langenbeck hören müßen. Er hat sich ein Haus gekauft, nicht weit von unserm alten Quartier in der Casernenstraße innerhalb der Ringmauer beim Brandenburger Thor. Seine bel Etage und höhern Etagene haben die Aussicht nach dem Thiergarten. Die wißenschaftliche Medicin hat doch durch die Erfindungen der letzten 30 Jahre und durch das Mikroskopiren, wie ich vernehme, große Fortschritte gemacht, das muß doch für Euch Mediciner ein großer Gewinn sein. Daß Du Dich || mit der realen Welt immer mehr befreundest, Dich immer mehr mit ihr zu verständigen suchst, macht mir große Freude, die Ideen darf man deshalb nicht aufgeben, sie bleiben doch das Leitende in der Welt, so paradox dieses vom gewöhnlichen Standpunkt aus aussehen mag. So geht es mir auch in der Geschichte und Politik. Die Geschichte ist die verkörperte Idee, man muß diese nur darin zu finden wißen. Aber den Philistern bleibt das alles verborgen, sie glauben alles zu haben, wenn sie die äußere Macht besitzen und doch gleitet ihnen diese, ehe sie sich’s versehen, aus den Händen und eine andre geistige Macht sitzt auf dem Thron und regiert die Welt! Von diesem Standpunkt aus verzweifelt man auch nicht, wenn die Sachen nicht so gehen, wie man wünscht und so wird auch der gegenwärtige rußische Krieg zu ungeheuern Resultaten führen. Er ist nur der Anfang einer großen Reihe von Kämpfen, ähnlich denen Griechenlands gegen Persien, nur viel großartiger, indem hier das ganze civilisirte Europa gegen die nordisch-slavische Barbarei auftritt. Unsre Kinder werden noch tüchtig zu fechten und zu kämpfen haben. Daneben ist sehr intereßant die Reaktion des 19ten Jahrhunderts gegen das 18te, des religiösenf Gemüths gegen eine übertriebene einseitige Verstandeskultur, und die mit diesen Kämpfen verknüpften Auswüchse und Abwege. Diese Reaktion ist auf dem Wege, das Christenthum zu einer Carricatur zu machen und die staatliche Entwikelung, wo möglich rükwärts zu führen, uns in ein versteinertes Ständewesen zurükzubringen und verweste Kammern wieder lebendig zu machen. Diese falschen Bestrebungen sind alle vergeblich und lösen sich von selbst auf, während der eigentliche Kern der Entwikelung immerfort wächst. Die Völker werden sich ihrer Nationalitäten bewußt und fordern ihre freie Entwikelung. Das ist den Mächtigen nicht recht, welche die Völker bisher am Gängelbande geführt haben und sie suchen nun durch lauter äußere Mittel diese Entwikelung zu hindern, die Völker einzuschnüren. Inzwischen mehren sich die materiellen Bedürfniße von Jahr zu Jahr, verbinden die Völker durch einen vielseitigen Verkehr, klären sie gegenseitig auf und führen sie einem neuen Leben entgegen. Das Christenthum wird in seinen äußern Zuständen von seinen Schlaken immer mehr gereinigt, der Kern deßelben immer mehr erkannt und an die Stelle eines seichten Rationalismus tritt immer mehr eine das Tiefste des Menschen befriedigende Religion, die wir bereits im Christenthum besitzen. Aber zu allem diesem gehören große lange Kämpfe, wie wir sie bereits in der Reformation gehabt haben. Die frühern Civilisationen giengen unter, weil sie zu einseitig waren, sie entwikelten nur eine oder einige Seiten der Menschheit, die jetzige entwikelt die Menschheit vielseitig, durchdringt alle ihre Glieder, darum hat auch die Vorsehung grade jetzt alle Verbreitungsmittel der Civilisation gesendet, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrisch magnetische Telegraphen etc. Wenn früher die Civilisation einen gewißen Grad erreicht hatte, so wurde sie stagnirendend und faul, gieng in Verwesung über. Die höhern Stände verweichlichten und wurden die Beute roher Eroberer. Die jetzige Cultur belebt auch die innern geistigen Kräfte immer aufs neue, die gebildeten Stände arbeiten sich immer wieder aus der Verweichlichung heraus. Der englische Gentelmann tritt in die Reihen des englischen Heeres, geht nach der Krim, trägt dort alle Strapazen und schlägt sich tapfer. Das Gleichgewicht zwischen geistiger und körperlicher Ausbildung wird aufrecht erhalten, immer wieder hergestellt. Der Mann der Wißenschaft geht auf Reisen, stärkt dort seinen Körper, versucht fremde Länder und Klimate und acclimatisirt sich hier und dort. Das innere Afrika wurde von Barth entdekt, die Schraubendampfer dringen bis ins Innre vor und erweken einen Verkehr und eine Civilisation, welche auch im Innern von Afrika Rohheit und Bestialität vertilgen wird. Ueberall, wo man hinsieht, geht es vorwärts. Ich kann es Dir unter diesen Umständen nicht verdenken, wenn Du die Welt sehen willst, und der Doktor soll dem Naturforscher mit durch die Welt helfen. Die Medicin soll Dich in die Welt einführen. || Daß nach der starken körperlichen Bewegung, die Du so lange gehabt hast, Dir die jetzige nicht ganz zusagt, finde ich natürlich. Ich gehöre auch nicht hinter den Aktentisch, habe aber doch hinter ihm ausgehalten und nur die Sinne offen und empfänglich erhalten müßen. Das viele Reisen jetzt stellt auch hierin wieder ein gewißes Gleichgewicht her. Dazu kommen in Berlin, wenn man hier lebt, die langen Gehstreken, welche den Körper gehörig auf den Beinen halten, dabei wird freilich etwas mehr Zeit aufs Gehen gewendet, als sonst. Das ist aber ganz recht und in dieser Hinsicht wird Berlin für Dich ganz paßend sein. Von Wilhelm Bleek sind Briefe da, er sitzt nun im Kaffernlande und hat die schwere Aufgabe bestanden, 9 Wochen mit einem Missionair in einer elenden Kaffernhütte ohne Bett und Geräthschaften zu leben. Da wird er wohl die Sprache loskriegen. Man muß auf allen Vieren in diese Hütte, die wie ein Bienenkorb aussehen soll, hineinkriechen! Die Europäer werden ihnen wohl beibringen daß ein kleines Haus menschlicher ist. –

Vorgestern besuchten mich auch die Passowschen Mädchen, um mir zum Geburtstag zu gratuliren. Der Bruder ist seit 2 Monaten in Schulpforta als Lehrer angestellt. Die kranke Tante Seebeck ist vor einigen Wochen gestorben, die alte Mutter Seebeck aber noch sehr munter. –

Von erschienenen Schriften macht jetzt Aufsehen das Buch von Bunsen: „Die Zeichen der Zeit“ gegen die Stahlsche Orthodoxie gerichtet! Ferner haben wir Abends: „Das Leben Buxton’s“, eines englischen Parlamentsmitglieds gelesen, der sein Leben (er war der Gehülfe und Nachfolger Wilberforce’s) damit zugebracht, die Emancipation der Neger in den englischen Kolonien durchzusetzen und dem Sklavenhandel ein Ende zu machen. Zu dem Ende verlangt er vorzugsweise die Civilisation des Innern von Afrika, die Hinübertragung des europäischen Verkehrs in daßelbe. Jetzt nach 20–30g Jahren, sind nun erst bedeutende Schritte hiezu geschehen, seitdem man auf dem Tschaddafluß 50 deutsche Meilen mittelst Schraubendampfboot binnen weniger Wochen ins Innre hineingefahren und Barth nun die innern Zustände Afrikas aufgeklärt hat. Nun wird es wohl vorwärts gehen! – –

Für heute genug, mein lieber Ernst. Nächstens mehr. Dein Dich liebender Vater

Hkl

Adolph Schubert läßt Dich herzlich grüßen, er gewöhnt sich allmählich und mit Vorsicht wieder in die Welt ein und wird wahrscheinlich künftiges Jahr einen Versuch machen, sich bei einem Oekonom auf dem Lande einigeh ökonomische Kenntniße zu erwerben, da ihm die Aerzte zur Pflicht gemacht haben, eine bestimmte Beschäftigung zu treiben. Von seinen Grillen ist jetzt wenig zu spüren und er besucht auch kleinere Gesellschaften, beschäftigt sich viel mit Musik und Generalbaß. Mimi, die Dich herzlich grüßt läßt Dir sagen: Du möchtest künftig doch etwas größer schreiben. Deine kleine Schrift laße sich gar zu schwer lesen. –

[Beischrift von Charlotte Haeckel]

Mein lieber, lieber Herzens Ernst! Dein lieber Brief mit der Sendung kam richtig an Vaters Geburtstag an, und danke ich Dir mit Vater herzlich für Deine Liebe, ich fühlte es recht, daß Du im Geiste bei uns warst, wenn ich Deine volle Gegenwart auch schmerzlich vermißte. An dem Tage hast Du || es Dir auch anders bei uns gedacht, als es war: mir war es recht betrübt, daß wir den Tag nicht wie sonst im trauten Freundeskreise verleben konnten, da Häckel noch Diät halten muß und sich nicht anziehen konnte. Doch müssen wir ja froh sein, daß es jetzt besser geht; und wenn er wieder ganz hergestellt sein wird, soll der Geburtstag nachgefeiert werden. Als wir vorgestern in Vaters Stube saßen und Deinen lieben Brief lasen, trat auf einmal Karl herein, Du kannst Dir denken welche Freude und Ueberraschung. Den Wein, den Du geschickt, habe ich auch aufgehoben, da Vater an seinem Geburtstag kein Glas Wein trinken durfte. –

Hoffentlich, mein lieber Herzens Ernst, hast Du es uns aufrichtig geschrieben, || daß Du wirklich wieder ganz besser bist, und die Verletzung Deines Fingers keine üble Folgen gehabt hati. Bei uns sind auch 2 Briefe wiederj angekommen, die Vater Dir nach Meran geschrieben hatte. Auch muß ein Brief von uns an Dich verlohren gegangen sein, es war der 2te nach Deiner Zurückkunft, worin ich Dir ausführlich mancherlei geschrieben, was mir nicht lieb ist, daß es verlohren oder in fremder Hand gekommen, ich wunderte mich schon, daß Du nichts darauf schriebst. Nun, der Winter || wird ja auch angehen, und dann habe ich, so Gott will, meinen Herzens Jungen wieder bei mir; ich kann Dir gar nicht sagen, wie ich mich darauf sehne und darauf freue, wieder traulich mit Dir plaudern zu können. –

Karl denkt am 20sten December her zu kommen, und Mimmi, die mit ihren Kindern wohl Dienstag nach Stettin gehn wird, denkt dann auch zurück zu kommen. Da wird mir wohl zum Feste mein lieber Ernst || recht fehlen; doch sehe ich es ein, daß es thöricht wäre, auf so wenig Tage die Reise zu machen. Wenn Du zu Ostern kommst wirst Du recht Deine Freude an den beiden drolligen Jungen haben; der kleine Hermann scheint ein recht kräftiges Kind zu sein, er erinnert mich oft an Dich als Du klein warst. Bei den Versuchen, die Karlchen zum Sprechen macht, kommt oft Dein Name vor. Tante Bertha geht es jetzt recht gut, sie geht auf Krücken im Hause umher. – – ||

Deine Freunde sehen wir bisweilen, im Ganzen leben wir aber still im Hause; Deine Mutter, die Du um 20 Jahr älter finden wirst, wenn Du her kommst, kann noch immer nicht viel vornehmen, sie ist zu miserabel, nun im Ganzen geht es ihr besser; und sie hofft ihren alten Jungen wiederzusehn. Nun, mein Herzens Ernst, Gott sei mit Dir; halte Dich frisch und behalte lieb

Deine

alte Mutter.

a gestr.: den; b gestr.: gr; c gestr.: für; d eingef.: Ich werde … förmlich studiren!–; e eingef.: Etagen; f eingef.: religiösen; g eingef.: 20–; h eingef.: einige; i korr. aus: habe; j eingef.: wieder

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
24.11.1855
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 35905
ID
35905